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Archiv-Artikel

Der Chefarzt

Als Gynäkologe hat Böhmer 30.000 Kindern auf die Welt geholfen „Ich kann mir“, sagter, „inzwischeneine eigene Meinung leisten“

VON BETTINA GAUS

Manche Biografien von Politikern scheinen fast von Geburt an auf den Höhepunkt ihrer Karriere hin geplant worden zu sein. Alles wirkt im Rückblick zwangsläufig, logisch, unausweichlich: die Parteizugehörigkeit, die ersten Ämter, die Machtkämpfe, selbst die Niederlagen. Und dann gibt es Politiker, bei denen das Leben vermutlich ganz anders verlaufen wäre, wenn nicht irgendwann etwas eingegriffen hätte, was man Zufall oder Schicksal nennen kann. Wäre Wolfgang Böhmer je in die CDU eingetreten, wenn sein Sohn nicht als junger Mann gerne Gedichte geschrieben hätte?

Schwer zu sagen. Denn der Sohn hat nun mal die Gedichte geschrieben, die im Spind des NVA-Wehrpflichtigen gefunden wurden und ihm den Vorwurf des „fehlenden sozialistischen Bewusstseins“ eintrugen. Er blieb widerborstig und wurde später wegen „unsozialistischen Verhaltens“ von der Universität geworfen. An eine eigene politische Karriere hat der Vater seinerzeit bestimmt nicht gedacht, als er sich hilfesuchend an Freunde wandte, die Mitglied der CDU in der DDR waren.

Sie konnten helfen. Der Sohn durfte weiter studieren, nachdem er sich ein Jahr in der Produktion „bewährt“ hatte. Heute ist er Arzt. Der Vater, jahrzehntelang als Gynäkologe tätig, ließ sich von den Freunden nach dem Fall der Mauer zur Kandidatur für die CDU bei der Landtagswahl 1990 in Sachsen-Anhalt gewinnen. Dann ging es schnell mit der politischen Karriere von Wolfgang Böhmer: 1991 Finanzminister, 1993 Sozialminister.

Seit 2002 ist der mittlerweile 70-Jährige Ministerpräsident, am Sonntag kämpft er bei der Landtagswahl darum, sein Amt behalten zu dürfen. Glaubt man den Umfragen, dann hat er gute Chancen – wenn auch mit einem neuen Bündnispartner. Derzeit sieht es so aus, als ob die Sozialdemokraten die FDP als Juniorpartner in der Koalition ablösen werden. Fände Böhmer das wirklich so unerfreulich, wie er derzeit behauptet?

Immerhin wäre nach dem Fall der Mauer doch auch eine Mitgliedschaft in der SPD für ihn vorstellbar gewesen. „Die Parteiprogramme kannte ich beide nicht.“ Er habe sich einfach denjenigen verbunden gefühlt, die ihm seinerzeit bei den Problemen seines Sohnes beigestanden hätten.

Wenn ein Politiker aus dem Westen so etwas sagte – bei Gerhard Schröder wäre das gut vorstellbar –, dann hörte sich das kämpferisch, trotzig und vielleicht ein bisschen anbiedernd an. Bei jener überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung, die ihre Wahlentscheidung auch nicht vom Wortlaut der Parteiprogramme abhängig macht. Bei Wolfgang Böhmer ist der Satz eine nüchterne Feststellung. In ihrer Distanz zu geschriebenen politischen Absichtserklärungen lassen sich die meisten ehemaligen DDR-Bürger bis heute nicht überbieten. Das gilt für Volk und Volksvertreter gleichermaßen.

Ihren Parteien machen es Spitzenpolitiker damit nicht immer leicht. Was ist eine zeitgemäße Form des Wahlkampfs in den neuen Bundesländern? Als erste Partei in Deutschland habe man die Ziele des Regierungsprogramms auf einer Audio-CD zusammengefasst, erklärt der junge, verbindliche Sprecher der CDU in Sachsen-Anhalt. Man solle doch auf der Heimfahrt im Auto einfach mal reinhören. Was für eine reizvolle Vorstellung.

Unterdessen bestreitet eine Band mit dem vielversprechenden Namen „Wirtschaftswunder“ das Vorprogramm des Landesparteitags. Sie sieht aus wie eine Vorstadtcombo der 60er-Jahre, so klingt auch ihre Musik. Aber vielleicht hätten die Organisatoren das Programm ein bisschen genauer absprechen sollen, als sie das offenbar getan haben. „Du musst alles vergessen, was du einstmals besessen“ – ob dieses Lied sich wirklich als Einstimmung für eine zündende Wahlveranstaltung eignet?

Mit den Absprachen scheint es ohnehin schwierig zu sein. Jürgen Seidel, der CDU-Landesvorsitzende in Mecklenburg-Vorpommern, spricht ein Grußwort für die wahlkämpfenden Parteifreunde. Er lobt den scharfen Verstand des Ministerpräsidenten und macht ihm dann ein ungewöhnliches Kompliment: dass er nämlich „nicht unbedingt die Ambitionen für eine Bambi-Verleihung ausstrahlt“.

Als Hinweis auf Solidität und Redlichkeit wäre das eine brauchbare Formulierung. Wenn bloß nicht unmittelbar danach ein kurzer Film gezeigt würde, der den Ministerpräsidenten als Superstar zum Thema hat. Böhmer am Rednerpult, Böhmer beim Hochwasser, Böhmer mit Merkel. Von vorne, von unten, von der Seite. Als Totale, als Halbtotale, als Porträt. Unterlegt mit dem Lied „Stay on these roads“ von A-ha. Sehr professionell gemacht. Ganz und gar unpassend.

Die Partei tut sich nicht leicht damit, ihren Spitzenkandidaten in den Griff zu bekommen. Alt, sperrig, knochentrocken und nicht bereit, gelegentlich eine nette, kleine Anekdote fürs Vermischte zu liefern: Wie will man mit so jemandem einen modernen Medienwahlkampf führen?

„In seiner Freizeit widmet sich Böhmer gern der Gartenarbeit“, steht im offiziösen Munzinger-Personenarchiv. Das ist so ziemlich das Einzige, was man außer dem Familienstand – verheiratet – über das Privatleben des Ministerpräsidenten weiß. „Mir ist nichts anderes eingefallen“, sagt er und lacht ein bisschen verlegen. Am Wochenende hackt er gerne Holz. „Das entspannt.“

Wenn er keine Arbeit hätte, dann würde er untergehen: Es ist nicht anzunehmen, dass Wolfgang Böhmer diesem übereinstimmenden Urteil von Leuten, die ihn seit Jahren kennen, widerspräche. Vermutlich schmeichelte ihm der Satz. Dass Arbeit sein ganzes Leben bestimmt hat, daran lässt er keinen Zweifel – und auch nicht an seinem Stolz darauf: „Ich habe meine gesamte Kindheit auf dem Feld verbracht. Da habe ich arbeiten gelernt“, erzählt der Bauernsohn aus der Oberlausitz.

Er ist der Erste in seiner Familie, der Abitur macht und studiert. Medizin. 17 Jahre, von 1974 bis 1991, arbeitet Böhmer als Chefarzt an einem diakonischen Krankenhaus in Wittenberg. Etwa 30.000 Kindern haben er und seine Kollegen in dieser Zeit auf die Welt geholfen. Noch immer klingt seine Stimme sehnsüchtig, wenn er darüber spricht.

Der Wechsel in die Politik ist ihm nicht leicht gefallen: „Mindestens zwei Jahre habe ich gebraucht, um Abstand vom Beruf zu bekommen. Lange Zeit habe ich mich innerlich nicht gelöst.“ Manchmal sei er heimlich ums Krankenhaus geschlichen. Noch als Finanzminister hat er operiert. Samstags. Wenn Böhmer sagt, dass er seinen alten Beruf heute nicht mehr vermisse, kommt das etwas zu schnell. Hörbar bewegt erzählt er, dass Leute ihm gesagt hätten, sie seien von ihm enttäuscht. Sie hatten ihn als Arzt behalten wollen.

Eine solche Biografie macht unabhängig. „Ich finde, ich kann mir inzwischen eine eigene Meinung leisten.“ Was dazu führt, dass Böhmer in einer Fernsehdiskussion mit Gregor Gysi auf n-tv dem Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei auch mal ganz unbefangen zustimmen kann: „Was Herr Gysi sagt, ist ja wirklich nicht völlig falsch.“ Oder dass er sich einen differenzierten Blick auf DDR-Biografien erlaubt.

Beispiel Manfred Stolpe. Er könne nicht beurteilen, was an den Stasi-Vorwürfen gegen den ehemaligen evangelischen Kirchenoberen und späteren Ministerpräsidenten dran sei, aber aus seiner Zeit als Chefarzt an einem kirchlichen Krankenhaus könne er sagen: Damals habe er „echt geholfen.“ Und: „Wer die Lage von Gefangenen verbessern will, muss mit den Gefangenenwärtern reden.“ Einige „notorische moralische Besserwisser“, die die Zwangssituation von damals nicht verstehen wollten, gehen ihm auf die Nerven. Das sind nicht gerade die Sätze, die man von einem ostdeutschen CDU- Politiker täglich hört.

Wolfgang Böhmer leistet sich nicht nur eine eigene Meinung, sondern beharrt auch auf seinem eigenen Stil. Als Gastredner auf dem CDU-Landesparteitag ist Christian Wulff geladen. Noch immer der Hoffnungsträger der Union, der Mann, den viele Deutsche am liebsten als Bundeskanzler gesehen hätten. Der niedersächsische Ministerpräsident spricht routiniert, werbend, kämpferisch. Innerhalb von drei Minuten hat er den Iran erwähnt, die Regierungschefin Angela Merkel gelobt und die Vorzüge der großen Koalition hervorgehoben. Kurz darauf preist er die Schönheiten von Quedlinburg und Wittenberg. Sehr ansprechend. Sehr nichtssagend.

Die Rede von Wolfgang Böhmer hört sich ganz anders an. Er nuschelt. Er spricht nicht über kulturhistorische Reize, sondern über die Notwendigkeit des Stellenabbaus in der Verwaltung. Er sagt: „Wir sind in kleinen Schritten vorangekommen – aber wir sind vorangekommen.“ Das ist allerdings eine Frage der Perspektive. Zwar hat Sachsen-Anhalt die rote Laterne der Arbeitslosigkeit an Mecklenburg-Vorpommern abgegeben, aber diese liegt eben immer noch bei über 20 Prozent. Böhmer sagt auch: „Wir werden keines unserer Probleme lösen, wenn es uns nicht gelingt, die Wirtschaftskraft des Landes weiter aufzubauen.“ Das ist vermutlich richtig. Aber nicht gerade herzerwärmend.

Trotzdem brechen die Delegierten des Parteitags am Ende der Rede in frenetischen Jubel aus, der schnell in rhythmisches Klatschen übergeht. Der Beifall will nicht enden. Wie sich das bei solchen Gelegenheiten eben eingebürgert hat. Da tritt Wolfgang Böhmer noch einmal ans Rednerpult: „Liebe Freunde, ich weiß ja, dass Sie es gut meinen. Ich weiß auch, dass die Medien aufpassen, wie lange Sie klatschen. Aber ich sage Ihnen ganz ehrlich: Meinetwegen ist es nicht nötig.“

Zwischen Mundwinkeln und Augen blitzt für einen Augenblick sehr viel Ironie auf. Und ein bisschen Selbstironie. Er weiß wohl, dass ihm diese Sätze kaum jemand glaubt. Obwohl – oder weil – sie stimmen.