Flucht ins Feindesland

RASSISMUS Bis in die Nacht pöbeln Anwohner, erste Flüchtlinge fliehen, Linke errichten eine Mahnwache. Ein abendlicher Besuch vor der neuen Asyl-Notunterkunft in Berlin-Hellersdorf

VON KONRAD LITSCHKO

Die sechs Männer halten es keine Viertelstunde dort aus. Gerade erst wurden sie in Bussen zu ihrer neuen Unterkunft gefahren. Nun verlassen sie diese bereits wieder mit gepackten Reisetaschen und Plastiksäcken voller Kleidung. Man sei informiert worden, dass manche Leute sie hier nicht haben wollten, sagt einer der Flüchtlinge. Aus Palästina komme er. „Da hatten wir die Mauer, hier stehen wir wieder vor einer Mauer“, sagt er. „Findet ihr das okay?“

Der Mann läuft auf die rund 200 Protestierer an der Straßenecke zu. „Wollt ihr uns töten?“, schreit er. Doch die Demonstranten sind für die Flüchtlinge gekommen, es sind Antifa-Anhänger. „We are your friends!“, ruft einer zurück. Der Palästinenser hört es nicht mehr, er dreht sich um, läuft weg. Und weint. Sie wollten zurück in ihre vorherige Unterkunft, sagen seine Begleiter. Kurz darauf fahren die sechs mit dem Bus davon.

Es sollte ein normaler Vorgang werden. Hunderte neu eintreffende Flüchtlinge muss Berlin derzeit unterbringen. Mit 5.000 Neuankömmlingen rechnet die Stadt in diesem Jahr, so viele wie lange nicht. Weil alle Asylheime belegt sind, eröffneten zuletzt Notunterkünfte. Am Montag auch in Hellersdorf, im Osten der Stadt, in einem Plattenbaugebiet. Weil der Bezirk bisher wenige Flüchtlinge aufnahm und weil er leerstehende Gebäude hat. So wie das frühere Max-Reinhardt-Gymnasium, auch ein Plattenbau. Nun soll er zur Schutzstätte für Geflohene werden.

Seit Wochen macht eine Bürgerinitiative Stimmung gegen die Unterkunft, klagt gegen die Unterbringung. Die Gruppe tritt anonym auf, der Verfassungsschutz sieht sie von Rechtsextremisten beeinflusst. Auf einer Demo marschierten auch NPD-Leute mit. Vor dem neuen Heim hängen ihre Plakate: „Guten Heimflug“. Und die Hetze verfängt.

In einer Kolonne aus Transportern des Roten Kreuz werden die meisten Flüchtlinge am Abend zu der Hellersdorfer Schule gefahren, mit Blaulicht. Die Wagen halten nicht vor der Schule, sondern auf dem Hinterhof. 42 Männer und Frauen, die aus Erstaufnahmeeinrichtungen der Stadt kommen. In den kommenden Tagen sollen 200 weitere Flüchtlinge folgen, vorerst.

Aus den Bussen steigen vor allem Serben, Syrer und Afghanen. Einige tragen kleine Kinder auf dem Arm, alle Reisetaschen. Ein Junge schiebt ein Bobbycar ins Haus. „Sogar ein Bobbycar!“, raunt eine Frau, die mit anderen Anwohnern den Einzug hinterm Schulzaun beobachtet. „Und wir müssen sehen, wie wir klarkommen.“ Es ist der Begleitsound für die Ankunft der Flüchtlinge. „Die werden auch noch herchauffiert“, meckert eine andere Frau mit rotgefärbten Locken. Man wolle das Heim nicht, heißt es auf den Bürgersteigen. Nicht hier. Ein dicklicher Glatzkopf wird festgenommen, nachdem er den Hitlergruß zeigt. Sie habe Angst, sagt eine junge Mutter. Wovor denn? „Na vor denen!“

Es sind die Parolen der Bürgerinitiative, die in den letzten Wochen „Nein zum Heim“ forderte. Offen zu erkennen gibt sich die Gruppe an diesem Abend nicht. Sie braucht es nicht.

Die Gegend um die Reinhardt-Schule ist sozial angespannt. „Wir haben genug Probleme“, ist das Kernargument der Flüchtlingsgegner. Die NPD erhielt hier bei der letzten Wahl 8,2 Prozent der Stimmen.

Man müsse die Sorgen der Anwohner ernst nehmen, hatte Bezirksbürgermeister Stefan Komoß, ein SPD-Mann, stets betont. Das Problem seien Rechtsextremisten, die das Thema missbrauchten. Vor der Schule taucht er am Montag nicht auf, weil er krank ist. Vereinzelte Abgeordnete der Linken und Piraten sind stattdessen gekommen und Jürgen Trittin, der Grünen-Fraktionschef.

Vor allem aber sind es Antifa-Aktivisten, die mit einem Banner, „Refugees welcome“, neben der Schule Stellung beziehen. Rund 400 werden es bis zum späten Abend.

150 Polizisten stehen um die Schule. Auf dem Gelände patrouillieren Wachmänner, lassen niemanden ins Haus. Aus einigen Fenstern blicken Flüchtlinge. Sie wissen nicht genau, wer sie hier unterstützt und wer sie weghaben will. Ein linker Demonstrant ruft einem Mann zu, sie müssten keine Angst haben. „Wir passen auf.“ Der Flüchtling schließt das Fenster.

Es wird dunkel. Am Bahnhof schimpft eine Gruppe Neonazis auf die „Zecken“, ein Tätowierter wirft eine Glasflasche nach ihnen. Er wird sofort festgenommen. Auch gegenüber der Schule beschimpfen Anwohner die Linken, Beamten halten sie fern. Mit Bierflaschen stehen sie vor den Hauseingängen, schauen mal auf die Schule, mal auf die Polizei.

Die Antifa-Leute entscheiden sich zu einer Mahnwache, zu unsicher sei die Lage. Wenn es sein muss, sagt einer von ihnen, bleibe man eine Woche, Tag und Nacht.

Sie hoffe, wird später eine Sprecherin der Berliner Sozialverwaltung sagen, dass sich „die Lage in Hellersdorf mit der Zeit beruhigt“. Dass sechs Flüchtlinge die Unterkunft bereits verlassen hätten, sei „natürlich nicht toll“. Seien diese durch die Situation aber dort ernsthaft belastet, werde man versuchen, andere Unterkünfte für sie zu finden.

Zwischen den Hellersdorfer Hochhäusern wird es erst um 22 Uhr stiller. In der Schule sind die Vorhänge zugezogen, Licht scheint noch hindurch im ersten Stock. Es kehrt Ruhe ein, endlich.

Nur lange währen wird sie nicht. Für den Dienstagabend hatte sich die NPD angekündigt. Am Mittwochmorgen wollen die Rechtspopulisten von „Pro Deutschland“ gegen die „Asylanten“ demonstrieren.