piwik no script img

Archiv-Artikel

Würde und Respekt

ALLTAG In Anacostia streitet ein Radiosender gegen Armut, Kriminalität, Vertreibung – und Ignoranz

WASHINGTON taz | In Feierlaune ist Kymone Freeman nicht. Es ist ein graues Bürohaus vor einer Wand mit ein paar gepinselten Worten, das dem schwarzen Radiomacher in Washingtons ärmsten Stadtteil Anacostia jeden Morgen die Stimmung vergrätzt.

Nicht dass die schnell hochgezogene Zentrale einer Baufirma etwas mit dem 50. Jahrestag des Marsches der Bürgerrechtler zu tun hätte, den gerade alle Welt feiert. „Aber das Bild steht für die Doppelbödigkeit, mit der Martin Luther King bejubelt wird“, meint Freeman. Für ihn ist das Fest an diesem Samstag nämlich „nichts als eine dumpfe PR-Angelegenheit. Über die drängenden Probleme der Afroamerikaner wird dabei nicht geredet.“

Gentrifizierung droht

Freeman hatte sein Lieblingszitat an die Wand geschrieben: „Die Hoffnung auf eine sichere und lebenswerte Welt ruht auf disziplinierten Nonkonformisten, die für Gerechtigkeit, Frieden und Brüderlichkeit eintreten.“ Keinen Monat habe es gedauert, ärgert sich der athletische junge Mann mit dem feinen Gesicht hinter der schwarzen Brille, bis die Bauzentrale die Sicht darauf versperrte. „Ein Investor witterte ein gewinnbringendes Objekt in diesem Viertel, das noch vor Kurzem wegen seiner hohen Kriminalität als No-go-Zone galt.“

Freemans Aktivistensender We Act liegt an der Martin Luther King Avenue. „MLK“ – der Name ist für den 43-jährigen Radiomacher Programm. „Er sollte dieser Gemeinde hier Würde und Respekt geben“, sagt Freeman. „Doch bis heute ist das nicht passiert, und wenn wir nicht aufpassen, ist von den alten Bewohnern des Viertels bald keiner mehr übrig, weil keiner sich die sanierten Wohnungen leisten kann.“

Nachdem die Weißen das Viertel einst wegen einer Schnellstraße verließen, leben zu 90 Prozent Afroamerikaner in den meist baufälligen Holzhäusern von Anacostia. Nur etwa jeder zweite hat einen Job. Die meisten nicht einmal einen Schulabschluss. Scherben und Blutlachen zeugen von Drogenkriminalität und Bandenkrieg.

Block 8, in dem Kymone aufwuchs, gilt als besonders schlimm. Die Aidsrate ist höher als in Teilen Afrikas. Zu essen gibt es wenig, trotzdem sind viele zu dick. „Junkbildung, Junkhäuser, Junkfood“, fasst Kymone die drei J zusammen, in deren Schatten viele schwarze US-Bürger heranwachsen.“ Er sieht einen Teufelskreis aus Armut, Kriminalität und Ignoranz.

Der Aufbruch der Bürgerrechtler in den 1960er Jahren sei in den 1980ern wieder gebremst worden. „Unter Ronald Reagan haben sie die Sozialleistungen zusammengestrichen. In der Schule wurde uns daraufhin Ketchup statt Gemüse serviert.“ Heute gibt es Bistro-Menüs von Steak bis Lachs in der Martin Luther King Avenue. Anstelle der alten Kaschemmen öffnen schicke Kneipen. „Ich war früher einer von den Bad Guys, wegen denen man lieber nicht nach Anacostia kam“, erzählt eine Kellnerin. „Heute ist es cool, zurückzukehren, denn es bewegt sich viel.“

Aber genau diese „entgeistigte und interessengelenkte“ Bewegung stört Freeman. Die Gemeinden, die noch MLK beschworen haben, gebe es nicht mehr. „Do Something“ heißt daher der Slogan seines Senders, der inzwischen täglich drei Stunden Programm – hauptsächlich für Afroamerikaner – macht. Die News- und Talkshows kreisen sowohl um Themen wie Aids- und Drogenprävention, Kreativität oder Jobsuche als auch um Aktuelles – etwa Kampagnen zum Trayvon-Martin-Prozess.

„Trayvon ist der Beweis dafür, dass sich in vielen Dingen nichts geändert hat,“ sagt Freeman. „Wenn es einen Sinn für den sinnlosen Tod dieses Teenagers in Florida gibt“, sagt Kymone, „dann, dass er die Glut der jüngeren Schwarzen wieder angefacht hat.“ ANTJE PASSENHEIM