Die Macht der Mini-Diktatoren

Fadela Amara erklärt in ihrem Buch „Weder Huren noch Unterworfene“, warum junge Musliminnen von ihren Brüdern tyrannisiert werden und was man dagegen tun könnte

Der Schuss des Berliner Jugendlichen Ayhan Sürücü auf seine Schwester Hatun im Februar 2005 hallt nach bis heute. Ein Mord, weil die Schwester es wagte, Sex zu haben – nun reißt die Debatte um unterdrückte Musliminnen in der Öffentlichkeit nicht mehr ab.

Leider geht in der Kontroverse oft unter, was nun ein eindruckvoller Band aus Frankreich wieder vor Augen führt: Die konkreten Ursachen für die zunehmende Unterdrückung migrierter Mädchen und mögliche Auswege.

Fadela Amara, eine der Protagonistinnen der Organisation „Ni putes ni soumises“ (Weder Huren noch Unterworfene), hat in dem gleichnamigen Buch die Geschichte der Bewegung von Frauen aus den französischen Vorstädten reflektiert. Und damit gezeigt, dass es nicht unbedingt wissenschaftlicher Kontroversen samt ideologischer Grabenkämpfe bedarf, um die fatale Entwicklung in den Migrantenvierteln Deutschlands und Frankreichs zu verstehen und etwas dagegen zu unternehmen.

In Frankreich ist die Situation der Eingewanderten, die in den Banlieue in einer Art Ghettosituation leben, um einiges schlechter als in Deutschland – und doch kann man parallele Entwicklungen beobachten. Zwar entstand in Frankreich in den Achtzigerjahren nach einer Großdemonstration von 60.000 Migranten(-kindern), die gegen ihre Diskriminierung protestierten, ein Bewusstsein für diesen Rassismus, doch nachhaltig reagiert hat die Politik nicht.

Im Gegenteil, im Zuge der folgenden Rezession sorgte die Massenarbeitslosigkeit für eine Vergrößerung der Probleme, dazu wurden Sozialarbeiterstellen und Nachbarschaftstreffpunkte eingespart. Das Versprechen der Integration hat die Politik nicht einlösen können. Wie eh und je bekommt man mit einem arabischen Namen kaum eine Wohnung und kaum einen Job.

Amara selbst hat im Arbeiterviertel der Autostadt Clermont-Ferrand erlebt, was diese Lebensenttäuschung bei Jugendlichen der nachfolgenden Kohorte angerichtet hat. Sie beschreibt, wie die Jungen in ihrem Viertel ihren Frust im Laufe der Neunzigerjahre nicht mehr in politische oder soziale Aktionen lenken, sondern in purer Destruktion ausleben: in Gewalt gegen Schwächere – und gegen Frauen.

Von der Politik erwarten diese Kinder nichts mehr. Die Autorität ihrer Väter in der Familie ist mit der Arbeitslosigkeit zerfallen. Es beginnt die Diktatur der großen Brüder, die sich selbst mit der Rolle des Familienvorstands aufwerten. „Tatsächlich ist ihr Leben beinahe schizophren: In der Familie sind sie der König, draußen sind sie nichts und niemand“, erklärt Amara. Die Leidtragenden sind zuerst die Schwestern, dann wird der Aktionsradius so weit ausgedehnt, wie die Macht der Mini-Diktatoren reicht: auf die jungen Frauen des Viertels.

Hatten diese Mädchen bis dahin ihre Probleme mit autoritären Vätern noch durch heimliche Umwege bewältigen können, so ist dieses Schlupfloch mit der zunehmenden Kontrolle der Brüder versperrt – wenn das ganze Viertel Blockwart spielt, gibt es kein Durchkommen mehr. „Wir haben um ein Stückchen Freiheit gekämpft, sie hatten keine Kraft mehr dazu“, resümiert Fadela die Berichte der Mädchenberatungen aus der jüngeren Vergangenheit.

Erschwerend kommt hinzu, dass Islamisten die ideologische Leerstelle besetzen, die die enttäuschte Hoffnung auf Integration in die Mehrheitsgesellschaft hinterlassen hat. Sie liefern den Jungen eine Rechtfertigung für ihren Despotismus. Aus dieser neuen Konstellation, so die These Fadela Amaras, erwachsen Grausamkeiten wie die von Samira Bellil beschriebenen Gruppenvergewaltigungen oder Ehrenmorde wie die Verbrennung von Sohane Benziane in Jahr 2002.

Mit diesem Mord beginnt die Geschichte von „Ni putes ni soumises“. Es sind die politisch Aktiven der Achtziger, die nun die „Generalstände der Frauen aus den Vorstädten“ einberufen und zum 8. März 2003 bei einem „Marsch der Frauen“ nach Paris 20.000 MitstreiterInnen aktivieren können.

Solche Aktionen können in Deutschland nur blanken Neid hervorrufen. Dagegen wirken die kritischen Punkte der Bewegung, auf die Amara selbst leider kaum eingeht, zweitrangig. Einer ist, dass „Ni putes ni soumises“ nicht unbedingt die Mädchen erreichen, für die sie kämpfen. Mit Kopftuchträgerinnen etwa tut sich Amara als Kämpferin für den Laizismus sichtlich schwer. Die Frauen anerkennen und das politische Symbol verurteilen – das ist allerdings immer eine Gratwanderung.

Das zweite Problem ist, dass die Bewegung, genauso wie muslimische Frauenrechtskämpferinnen in Deutschland, Gefahr läuft, von Politikern vereinnahmt zu werden, die letztendlich Rassismus schüren. Ohnehin tendiert Politik bei so schwerwiegenden Problemen dazu, sich mit ein paar hübschen Bildern von kostspieligerem Engagement freizukaufen. Teilweise werden die Frauen benutzt, um die Männer aus den Vorstädten weiter zu dämonisieren – kein Thema für Amara. Doch ist das entschuldbar, denn zumindest in diesem Buch sind die Zusammenhänge und Forderungen glasklar benannt. Wer das deutsche Vorwort von Seyran Ates ignoriert, die leider mal wieder gegen angeblich naive Multikulti-Politiker hetzt, wird aus diesem Band einiges mitnehmen. HEIDE OESTREICH

Fadela Amara (mit Sylvia Zappi): „Weder Huren noch Unterworfene“. Aus dem Französischen von Sarah Dornhof, Orlanda Frauenverlag, Berlin 2005, 120 Seiten, 14,50 Euro