: Auf verlorenem Protest
DAS SCHLAGLOCH VON ILIJA TROJANOW Proteste in Bulgarien: Das Land droht in seiner Verfilzung unterzugehen
■ ist Schriftsteller und Weltensammler. Veröffentlichungen: „Stadt der Bücher“ (mit Anja Bohnhof), München 2012, und „Die Versuchungen der Fremde: Unterwegs in Arabien, Indien und Afrika“, München 2011.
Zwischen Ministerrat und Amtssitz des Präsidenten trillern einige hundert Demonstranten. Drei schrille Pfiffe, eine Pause, dann wieder drei schrille Pfiffe, stundenlang. Einige von ihnen, aus der Provinz in Bussen hergekarrt, wissen nicht so genau, wozu sie hier sind, außer um die Regierung zu unterstützen. Fünfhundert Meter entfernt, vor dem Parlament, trillern einige hundert andere, unentwegt, stundenlang, gelegentlich unterbrochen von Ausrufen: „Ostavka!“ (Rücktritt). Es wäre einem uneingeweihten Betrachter nicht zu verdenken, wenn er ob der fast identischen Proteste verwirrt zurückbliebe.
Die Dame mit Hund ist dabei
Dabei gibt es durchaus relevante Unterschiede. Der Protest vor dem Parlament dauert schon mehr als zwei Monate und erfasste vor der Sommerpause bis zu 30.000 Menschen (allerdings nur in Sofia; in der bulgarischen Provinz gab es bislang nur seltene und schwache Proteste). Die Zusammensetzung der Demonstranten, darunter viele junge, war sehr gemischt, reichte von bekannten Künstlern bis hin zu Damen mit Hündchen und Müttern mit Kinderwagen. Auch durchtrainierte Gruppen von aggressiv dreinblickenden Männern mischten sich unter die Protestierenden und verdrängten anfänglich einige radikaler gestimmte Demonstranten. Reden werden nicht gehalten, Flugblätter kaum verteilt, auch werden keine Kurse in alternativer Selbstorganisation oder intellektueller Selbstverteidigung angeboten, wie etwa bei der Occupy-Bewegung. Stattdessen werden Blumen und Wasserbecher an die Polizei verteilt und in die Trillerpfeifen geblasen, als gelte es, jeden der unzähligen politischen Verstöße seit 1989 zu reklamieren. Manche nennen dies den „Protest der intellektuellen Elite“.
Es fehlen allerdings soziale Forderungen. In der Anfangsphase gab es Losungen gegen Monopole und für mehr direkte Demokratie, Selbstverwaltung und Bürgerkontrolle. Aber die sind überwiegend verschwunden, verdrängt von dem überragenden Wunsch nach Rücktritt der neuen Regierung. Das aber würde zu Neuwahlen führen und somit zu einer neuerlichen Regierung der altbekannten Parteien, seien es die gegenwärtig regierenden Sozialisten (die Partei der Millionäre), deren Koalitionspartner, die Partei der türkischen Minderheit (die in den von ihr kontrollierten Regionen durchweg effiziente mafiöse Strukturen aufgebaut hat) oder die bis vor kurzem regierenden „Konservativen“ von GERB (die Partei der mittleren Geschäftsleute). Unterstützt wird die Koalition der „Linken“ von den xenophoben Rechtsextremen der Partei Ataka. Die Auswahl für die große Mehrheit der nur mühsam überlebenden Bulgaren ist extrem beschränkt.
Als Alternative käme im besten Fall eine neuerliche Regierung unter der Führung von Boiko Borissow in Frage, eine Koalition „mit menschlichem Antlitz“, weil die zuletzt regierenden GERB höchstens ein Viertel der Stimmen gewinnen wird und kleinere „rechte“ Parteien ins Parlament gewählt werden könnten. Diese Aussicht ist meilenweit entfernt von dem Neuanfang, den sich laut einer neuen Umfrage fast die Hälfte der Bevölkerung wünscht. Auch der prominente Politologe Ognyan Mintschew erklärt: „Nötig ist eine radikale Veränderung der Vision des Staates, der Gesellschaft, der Zukunft.“ Doch so vage er in seinen Ausführungen bleibt, so vage sind auch die Forderungen der Protestierenden.
Nach den turbulenten Jahren
Die politische und wirtschaftliche Elite in Bulgarien ist derart verfilzt, dass es erst nach längerem Auslandsaufenthalt auffällt. Der „sozialistische“ Premierminister Plamen Orescharski war in den turbulenten Jahren nach 1989 Kandidat der Demokratischen Opposition (SDS) für den Posten des Bürgermeisters von Sofia, doch wegen eines Treffens mit einem führenden Mafioso musste er seine Kandidatur zurückziehen. Danach war er Finanzminister in der Regierung des einstigen Zaren Simeon Sakskoburggotski, Mitglied einer Partei, die aus dem Nichts entstand und nach getaner Raub- und Vertuschungsarbeit wieder im Nichts verschwand. Daraufhin lief er zu den einstigen Todfeinden, den Sozialisten, über. Eine typische Karriere im bulgarischen Parlament, in dem die Zugehörigkeit zu bislang zwei oder gar mehr Parteien die Norm ist.
Parteipolitik ist ein Bäumchen-wechsle-dich-Spiel ohne wirkliche Relevanz, denn weiterhin dominieren die Apparatschiks aus kommunistischer Zeit beziehungsweise ihre Kinder Politik, Wirtschaft und Medien. Wer nicht dieser oligarchischen Klasse entstammt, hat keine Chancen zu reüssieren. Der „Retter des Vaterlandes“ Boiko Borissow etwa hat zu kommunistischer Zeit die Hochschule der Staatssicherheit absolviert und im Innenministerium gearbeitet, bevor er eine Sicherheitsfirma gründete, die den Diktator Schiwkow bewachte. Zuletzt war er liiert mit Tswetelina Borislawowa, Tochter eines Offiziers der ehemaligen Staatssicherheit und als Bankerin nicht nur eine der reichsten Frauen im Land, sondern auch graue Eminenz in der Partei GERB.
Historischer Moment verpasst
Eine Entmachtung dieser Oligarchie ist angesichts ihrer nationalen und internationalen Verflechtungen zunehmend unwahrscheinlich, was für die Zukunft wenig Gutes verspricht. Bulgarien im Jahre 2013 ist der schmerzhafte Beweis, wie katastrophal die Folgen sind, wenn eine Nation den historischen Moment verpasst hat. Mehrfach hatte sich nach 1989 die Möglichkeit geboten, die herrschenden Verhältnisse zu ändern. Diese Gelegenheiten wurden nicht genutzt, denn jene, die in der „Opposition“ waren, beschworen die Strategie des Kompromisses, der runden Tische und Koalitionen. Die Lämmer schlugen den Wölfen immer wieder Verhandlungen vor. So konnte sich die oligarchische Macht derart konsolidieren, dass ein Umbruch in unsichtbare Ferne entrückt ist. Die Lenin’sche Definition des revolutionären Moments ist inzwischen auf den Kopf gestellt: „Die da unten können nicht“, nämlich die Verhältnisse ändern, und „die da oben wollen nicht“, nämlich eine Veränderung erlauben.“ Das Land wird weiteres Leid erdulden müssen.