: Ärzte wollen andere Praxis
Etwa 30.000 Mediziner protestieren am Brandenburger Tor gegen die Sparpolitik der Regierung im Gesundheitswesen und drohen mit Streiks während der Fußball-WM. Die geplanten Strafgebühren für zu teure Verschreibungen stoßen auf Unmut
AUS BERLIN CIGDEM AKYOL UND BARBARA DRIBBUSCH
Wer gestern die Praxis des Allgemeinmediziners Arun Kumar aufsuchen wollte, stand vor verschlossener Tür. Wer durchklingelte, erreichte nur den Anrufbeantworter. Eine freundliche Stimme erklärte dem Hörer am anderen Ende der Leitung, dass die Praxis aus Protest geschlossen sei. Der Widerstand richte sich gegen die geplante Verschlechterung der Krankenversorgung. Kumar war einer von 30.000 Teilnehmern, die gestern in Berlin am Brandenburger Tor gegen die Gesundheitspolitik der Regierung demonstrierten.
Kumar hatte seine Praxis in Hude bei Oldenburg für einen Tag geschlossen und war in die Hauptstadt gefahren, um „nicht für die Fehler der Politik verantwortlich gemacht zu werden und gegen die unerträgliche Situation“ zu demonstrieren, so Kumar.
Martin Grauduszus, Präsident der Freien Ärzteschaft, gab sich besonders kämpferisch: „Sollte sich die Sparpolitik im Gesundheitswesen nicht ändern, werden wir auch während der Fußball-WM streiken.“
Nachdem in den vergangenen Wochen die Klinikärzte aufbegehrten, wollten mit dem gestrigen „nationalen Protesttag“ vor allem die niedergelassenen Ärzte auf die ihrer Ansicht nach bestehenden Misstände im Gesundheitswesen aufmerksam machen. Zu dem Protest hatten 50 Ärzteverbände, zehn Patientenverbände und die Berufsverbände der Physiotherapeuten aufgerufen. Bundesweit blieben viele Arztpraxen geschlossen. Die Demonstranten forderten auf Transparenten „Freie Ärzte statt staatlicher Billigmedizin“ und skandierten: „Wir sind die Ärzte.“
In der gestern vorgestellten „Berlin-Essener Resolution der deutschen Ärzteschaft“ forderten die Mediziner die Politik dazu auf, die „freie Arztwahl“ durch die Patienten beizubehalten und die „Freiberuflichkeit der Ärzte“ weiterhin zu sichern.
Vor allem aber das neue Arzneimittelspargesetz, das zu Minderausgaben von 1,3 Milliarden Euro jährlich führen soll, war Anlass für den Protest. Nach dieser neuen Bonus-Malus-Regelung (siehe unten) sollen Ärzte kostenbewusster Rezepte verordnen. Wer die durchschnittliche Verschreibungshöhe pro Arzt überschreitet, muss einen Malus entrichten, wer kostengünstiger verordnet, wird hingegen belohnt. „Ich will meinen Patienten aber nicht ständig sagen, was sie nicht mehr erhalten dürfen“, meint der Allgemeinmediziner Arun Kumar.
Begrenzte Budgets, Honorarabschläge für teure Medikamente und die „Kontrollbürokratie“ im Gesundheitswesen seien mit dem Arztberuf nicht vereinbar, sagte auch der Vorsitzende der Ärztevereinigung Medi, Werner Baumgärtner. Das Arzneimittelspargesetz sei inakzeptabel. Wenn die Ärzte keine Verbesserungen erreichen könnten, so Baumgärtner, würden sie „geschlossen aus dem System aussteigen“ und ihre Kassenzulassungen abgeben. Dies würde bedeuten, dass Patienten mit ihrer Krankenkassenkarte nicht mehr zu jedem Arzt gehen könnten.
In der „Berlin-Essener Resolution“ fordern die Mediziner zudem ein „Ende der Budgetierung ärztlicher Leistungen“. Dabei würden dann alle Leistungen der Ärzte auch bezahlt werden, unabhängig von Punktwerten und Praxisbudgetierungen. Für die Klinikärzte beanspruchten die Mediziner „international konkurrenzfähige Gehälter, die Bezahlung aller Überstunden und die Anerkennung von Bereitschaftsdiensten als vollwertige Arbeitszeiten“.
Bundesärztekammer-Präsident Jörg-Dietrich Hoppe erklärte gestern: „Wir wollen nicht länger hoch qualifizierte Leistungen zu Dumping-Preisen erbringen müssen, und wir wollen auch nicht länger als Erfüllungsgehilfen staatlicher Rationierung missbraucht werden.“
Der SPD-Gesundheitsökonom Karl Lauterbach verteidigte im Gespräch mit der taz jedoch die Bonus-Malus-Regelung. Es gebe Ärzte, die von den Pharmafirmen „indirekt Provisionen“ bekämen, wenn sie teurere Medikamente verordneten. Lauterbach sagte, in einer Zeit, in der Rentner und Beschäftigte Nullrunden oder nur geringe Lohnerhöhungen hinnehmen müssten, sei es zudem nicht vertretbar, den Ärzten große Einkommensverbesserungen zu gewähren.