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Archiv-Artikel

Heimliche Pilger

Teilnehmende Beobachtungen bei Familien ohne Orte: Auf der Diagonale, dem österreichischen Filmfestival, triumphieren die Dokumentarfilme

VON DIETMAR KAMMERER

Auf der am Sonntag zu Ende gegangenen Diagonale, der jährlichen Leistungsschau des österreichischen Films in Graz, wurden mehr Preise für künstlerische Verdienste vergeben als je zuvor, als großer Gewinner aber kann nur einer gelten: der Dokumentarfilm. Der Erfolg des nichtfiktionalen Films österreichischer Herkunft hält nun schon seit einigen Jahren an und kennt viele Facetten: Oscar-Nominierung für „Darwin’s Nightmare“, Zuschauerrekorde für „We feed the World“, monatelang anhaltende Diskussionen über mögliche politische Konsequenzen dank „Operation Spring“. All dem musste auch das Festival Anerkennung zollen – und verlieh in diesem Jahr zum ersten Mal einen Hauptpreis in der Sparte Dokumentarfilm. Zwei, genauer gesagt, denn die Jury sah sich außerstande, sich unter zahlreichen ungemein starken Bewerbern auf einen zu einigen.

Mit der Auszeichnung (zu gleichen Teilen) von „Exile Family Movie“ des iranischstämmigen Regisseurs Arash sowie „Babooska“ von Tizza Covi und Rainer Frimmel wurden zwei Filme geehrt, die im Feld des Dokumentarischen eher der kleinen Form zugerechnet werden dürfen. Beides sind Filme über Familien ohne Ort, über Zusammenhalt in unfreiwilligen Situationen des Exils oder des Nomadentums. Ihre Beobachtungen nehmen sie in intimer und geduldiger Nähe zu den Porträtierten vor.

Im Falle von „Exile“ war das Material ursprünglich gar nicht für die Öffentlichkeit gedacht, sondern ein privates Medium der (Selbst-)Verständigung unter Familienmitgliedern, die vor Jahren vor dem iranischen Regime in alle Welt fliehen mussten. Entgegen der Aufforderung des politisch immer noch agilen Vaters – „Mach lieber einen gesellschaftlich relevanten Film!“ – hat sich der Filmemacher aber dazu entschlossen, den humanistischen Überzeugungen seiner Eltern auf diese Weise ein Denkmal zu setzen.

Ein heimliches Treffen der Großfamilie, die teilweise noch im Iran lebt, nutzt als Deckmantel ausgerechnet eine Pilgerreise nach Mekka. Wunderbar, wie aus einer privaten Perspektive Einblicke in Zusammenhänge gegeben werden, die heute Weltpolitik konturieren. An den innerfamiliären Differenzen zwischen gläubigen Muslimen, liberalen Wahleuropäern und konservativen Bush-Wählern wird aber genauso deutlich, wie die großen Verhältnisse in die kleinen hineinreichen. „Babooska“, der zweite Gewinnerfilm, ist auch in eine solche Perspektive rückbar, er porträtiert den tristen Alltag einer italienischen Zirkusfamilie, das Zusammenrücken in engen Wohnwagen, den dauernden Ortswechsel und den Kampf gegen Zuschauerschwund.

Neben solchen Blicken aufs Private waren die stärksten Filme ausgerechnet solche, die vom Verschwinden des Menschen erzählten. „Unser täglich Brot“ von Nikolaus Geyerhalter ist ein Bilderreigen der modernen Landwirtschaft und industriellen Lebensmitelproduktion, aus denen der Mensch ausgetrieben scheint und in denen Maschinen wie autonome Subjekte agieren – Geyerhalter hat, wie der Filmkritiker Claus Phillip vermutet, eigentlich ein Remake von Kubricks „A Space Odyssee“ gedreht. Dann, so müsste ergänzt werden, hat Michael Glawogger in „Workingman’s Death“ die feurigen Höllenkreise von Dantes „Göttlicher Komödie“ ins Bild gesetzt. Schon im Titel von Glawoggers Film, der in fünf Episoden Orte besucht, an denen Menschen Schwerstarbeit leisten, ist der Mensch zwar im Zentrum, aber eingeschlossen von Arbeit und Tod.

Der Videobrief, die Investigation, die teilnehmende Beobachtung, der Blick hinter die Kulissen, das intime Porträt – der Dokumentarfilm hat auf der Diagonale eine enorme Spannbreite bewiesen und zu Recht Triumphe gefeiert. Trotzdem – oder gerade deswegen – sollte die Situation auch vorsichtig kritisch betrachtet werden. Arash hat angekündigt, als Nächstes einen Spielfilm zu drehen, Glawogger hat seinen ersten („Slumming“) bereits auf der Berlinale vorgestellt. Wie stabil das augenblickliche Hoch des Nicht-Fiktionalen ist, muss also noch abgewartet werden.