Ungeheuer menschlich

SCHILLER Politik wird von Menschen gemacht. Das macht Roger Vontobels nuancierte Inszenierung von „Don Carlos“ in Dresden plastisch

Die Figuren schillern in aller Ambivalenz. Man geht nicht mit einer von ihnen mit, sondern meint, sie alle in ihren Nöten und Ängsten zu verstehen

VON ANNE PETER

Selten schallt einem die Begeisterung derart einhellig aus dem Feuilleton von Radio und Tageszeitungen entgegen. Da ist von einem „außerordentlichen Theaterabend“ und „großem Schauspielertheater“ die Rede, „sehr, sehr aufregend in seiner Präzision“ und „beinahe musterhaft“. Auch ein Kollege, der nicht geschrieben hat, rät in einem Berliner Theaterfoyer dringend zum Besuch des „Don Carlos“ am Dresdner Staatsschauspiel. Ostermontag lief dort die zweite Vorstellung von Roger Vontobels „Don Carlos“, prominent mit Burghart Klaußner und Christian Friedel besetzt. In Michael Hanekes Film „Das weiße Band“ waren sie Dorfpfarrer und Lehrer, jetzt stehen sie als Vater und Sohn, Königs-Tyrann und Prinzen-Heißsporn, auf der Bühne.

Klaußner ist in Dresden nur Gast. Friedel hat dort in letzter Zeit, von „Wilhelm Meister“ bis „Peer Gynt“, schon manche Titelpartie bestritten. Mit von Hannover nach Dresden gebracht hat ihn der neue Intendant Wilfried Schulz, dessen Neustart wohlwollend aufgenommen wurde. Der ganz große künstlerische Wurf ließ allerdings auf sich warten.

Verschachtelte Intrigen

Doch jetzt gibt es diesen „Don Carlos“, Schillers Stück über die verbotene Liebe eines Prinzen zu seiner jungen Stiefmutter, über die verkorkste Beziehung zwischen Vater und Sohn, über die Probe einer Revoluzzer-Freundschaft, über das Sichaufbäumen und klägliche Verenden einer aufklärerischen Vision. So viel hat Schiller seinem „Don Carlos“ aufgeladen, gleichsam mehrere Dramen kunstvoll ineinander verschränkt. Ob der kompliziert verschachtelten Intrigen hat man schon bald den Überblick verloren, welcher Brief wann in wessen falsche Hände gelangt.

Das Bestechende an Vontobels Inszenierung ist, in welcher Klarheit sich die Verwicklungen vor unseren Augen entrollen, mit welcher Spannung der Politthriller erzählt wird. Wie all die Dramen gleichzeitig nebeneinander herlaufen, ohne dass eines die Oberhand gewinnt. Wie unaufdringlich heutig die Inszenierung in dem schwarz verkleideten Konferenzraum von Magda Willi daherkommt, ohne dass sie den Stoff verkleinernd in einer Real-Sphäre verankert. Das präparierte Tischchen erinnert an bilaterales Staatsoberhaupt-Setting, die Brille im Königinnen-Haar an Jackie O., die im zweiten Teil für schnelle Close-up-Szenen eingesetzte Video-Übertragung an Überwachungskamera oder Live-TV, die Musik an Kino-Suspense.

Doch das Ereignis dieser weder formal noch interpretatorisch auftrumpfenden Inszenierung sind die Schauspieler! Wie natürlich ihnen die Schiller-Verse über die Lippen gehen – als kämen sie ihnen hier und jetzt in den Sinn. Matthias Reichwald gelingt das Kunststück, die tausendfach gesprochenen Posa-Worte doch noch einmal anders klingen zu lassen.

Reichwald, der zu Spielzeitbeginn in Tilman Köhlers „Heiliger Johanna der Schlachthöfe“ als Fleischkönig Mauler den gewohnt kraftstrotzenden Energiebolzen gab, verlegt seine körperliche Wucht nun in den aufklärerisch eifernden Furor seines Posa. Und doch besieht sich dieser stolz den Ring, den ihm der König zum Zeichen seiner Gunst überstreift.

Christian Friedel schmiegt sich ganz in die Umarmung dieses zunächst wie ein Student auf Heimaturlaub scheinenden Freundes. Die Weichheit der Prinzenseele scheint ihm buchstäblich in Gesicht und Glieder gefahren.

Der einsame Herrscher

Wunderbar ist auch Sonja Beißwengers hochherzig beherrschte und doch von der Revolutionsidee entzündete Elisabeth, ebenso wie Burghart Klaußners Philipp, der Zerrissenheit, Verletzlichkeit und Einsamkeit des Herrschers geradezu schmerzlich spürbar macht. Oder Christine Hoppes fehlliebende Eboli.

Das nuancierte Spiel lässt die Figuren in aller Ambivalenz schillern. Dabei gelingt jede für sich so glaubwürdig, dass man nicht mit einer von ihr mitgeht, sondern sie alle in ihren Ängsten, Nöten und dunklen Gefühlen zu verstehen glaubt, man als Zuschauer binnen einer Szene zwischen ihnen hin- und hergerissen wird. Die Inszenierung macht plastisch, was es heißt, dass Politik, mag sie noch so abstrakt wirken, immer von Menschen gemacht wird. In einer Zeit, in der sich die Öffentlichkeit jeden Tag aufs Neue erschrickt, wie furchtbar Ämter und Verantwortung missbraucht werden können, tut es gut, wenn das Theater auf solch luzide Weise daran erinnert, dass nichts ungeheuerer ist als der Mensch.