Wer interpretieren will, wird sich die Augen reiben

KONKRETE REIZE Der argentinische Regisseur Lisandro Alonso dreht reduzierte, elementare Filme. Jetzt laufen sie im Berliner Arsenal-Kino

Was zu sehen ist, fügt sich nicht ohne Weiteres in einen vertrauten Bedeutungsrahmen

VON CRISTINA NORD

Um die Suggestivkraft der Montage zu beweisen, stellte der sowjetische Filmpionier Lew Kuleschow in den 20er-Jahren ein Experiment an. Er kombinierte dieselbe Aufnahme eines Schauspielers mit jeweils anderen Bildern. Beim ersten Mal war es ein Teller Suppe, dann eine tote Frau im Sarg, schließlich ein junges Mädchen. Obwohl der Gesichtsausdruck des Schauspielers identisch blieb, lasen die Zuschauer aus diesen Filmfragmenten je unterschiedliche Gemütsregungen heraus: Hunger im ersten Fall, Trauer im zweiten und Zuneigung im dritten. Kuleschows Experiment belegt nicht nur, wie abhängig das Einzelelement vom Zusammenhang und wie wirkungsvoll Montage ist, es belegt auch, wie sehr die menschliche Wahrnehmung zur Interpretation drängt. In einem unbewussten Vorgang stellt der Wahrnehmende die Reize in einen Bedeutungsrahmen, automatisch kombiniert er sie mit Erinnerungen, mit Vorwissen und Vorstellungen und lässt so ein Bild entstehen, das Sinn und Kohärenz ergibt. Was immer die Stimmigkeit dieses Bildes gefährdet, wird ausgeblendet, und selbst wenn das konkrete Material wie bei Kuleschow bestimmte Rückschlüsse nicht stützt, werden diese Rückschlüsse gezogen.

Das Kino des jungen argentinischen Regisseurs Lisandro Alonso, das zu entdecken in diesen Tagen das Berliner Arsenal-Kino möglich macht, erschwert diesen automatisierten Prozess. Beim Zuschauen reibt man sich immer wieder verdutzt die Augen, weil man nicht einordnen kann, was auf der Leinwand gerade vor sich geht. Was zu sehen ist, fügt sich nicht ohne Weiteres in einen vertrauten Bedeutungsrahmen, und so sehr man versucht ist, zu interpretieren, so sehr merkt man, dass man mit diesem Bedürfnis nicht weit kommt.

Vier Filme hat Alsonso, 1975 in Buenos Aires geboren, bisher gedreht, „La libertad“ („Die Freiheit“, 2001), „Los muertos“ („Die Toten“, 2004), „Fantasma“ („Phantom“, 2006) und „Liverpool“ (2007). Er gehört zu einer Reihe von jungen Regisseuren, deren Arbeiten unter dem Begriff „nuevo cine argentino“, neues argentinisches Kino, bekannt wurden. Lucrecia Martel, Israel Adrián Caetano oder Pablo Trapero sind bekannte Vertreter dieser Strömung, die dem argentinischen Film entschlackte, indem sie ihn vom magischen Realismus befreite. Wie die meisten Kino-Erneuerungsbewegungen hat sich auch diese mit den Jahren so weit ausdifferenziert, dass sich von einer Strömung nicht mehr sprechen lässt. Alonso ist sicherlich der sprödeste unter diesen Filmemachern, derjenige, der mit den geringsten Budgets auskommt und sich am weitesten von den Vorgaben herkömmlicher Dramaturgie entfernt. Das bringt ihm Anerkennung in Cannes, aber kaum je einen regulären Kinostart.

Machete, Motorsäge

Keiner seiner vier Filme benötigt viel Plot oder Dialog; „La libertad“ etwa, das Debüt, schaut sich einfach nur an, womit ein Holzfäller in der argentinischen Pampa den Tag verbringt, ohne deshalb ein Dokumentarfilm zu sein. Mit einer Machete schlägt der junge Mann (Misael Saavedra) die dünneren Äste vom Stamm, um die Wurzel herum gräbt er eine Grube, bearbeitet den Stamm mit der Axt, dann mit der Motorsäge, bis der Baum zu Boden geht. Er entfernt die Rinde, macht Mittagspause, hört Radio, wird von einem Vorarbeiter abgeholt und fährt auf der Ladefläche eines Pick-ups durch die Gegend. Später verkauft er die Stämme an einen Kunden, der den Preis drückt. Die ersten Worte werden gewechselt, als der Vorarbeiter auftaucht. Die Hälfte des Filmes ist da verstrichen.

Flussaufwärts fahren

In „Los muertos“ sieht man einen etwa 55 Jahre alten Mann namens Argentino (Argentino Vargas) in einer Strafanstalt auf dem Land, in der subtropischen Provinz Corrientes; er ist kurz davor, entlassen zu werden. Er rasiert sich, lässt sich die Haare schneiden, verabschiedet sich von den anderen Insassen. Nachdem er das Gefängnis verlassen hat, sucht er eine Prostituierte auf. Später leiht er sich ein Ruderboot und fährt flussaufwärts. Unterwegs räuchert er einen Bienenstock aus und saugt gierig an den Waben, manchmal trinkt er Wein aus einer Fünf-Liter-Flasche, einmal tötet er eine Ziege und weidet sie in einer längeren, ungeschnittenen Einstellung aus.

In „Fantasma“, dem einzigen Film mit städtischem Schauplatz, irren zwei Männer durch das Teatro San Martín in Buenos Aires, das Kulturzentrum, in dem neben einem Theater auch die Kinemathek der Stadt untergebracht ist. Dort wurden Alonsos Filme gezeigt, ohne dass sich das Publikum sehr für sie interessiert hätte („Los muertos“ fand, sagt Alonso, 3.500 Zuschauer in Argentinien). Die beiden Männer werden von Misael Saavedra und Argentino Vargas verkörpert, den Laiendarstellern, die in „La Libertad“ und „Los muertos“ die Hauptrollen spielten. Sie bewegen sich durch die Gänge, Treppenhäuser und Toiletten, wie sich die Figuren in Tsai Ming-liangs „Goodbye, Dragon Inn“ durch das alte Kino in Taipeh bewegen. „Fantasma“ hat viel von einer Hommage an den taiwanischen Film.

In „Liverpool“ schließlich geht ein Frachter im Hafen von Ushuaia, der südlichsten Stadt Argentiniens, vor Anker. Ein Matrose namens Farrel (Juan Fernández) macht sich auf den Weg in das verschneite patagonische Dorf, das er vor vielen Jahren verlassen hat. Als er nach der beschwerlichen Reise in der Ansiedlung ärmlicher Holzhäuser ankommt, gibt es kein großes Wiedersehen, nur eine bettlägerige Mutter, die ihren Sohn nicht erkennt, eine junge Frau namens Analía, die bei der Mutter wohnt, ohne dass man wüsste, in welcher Beziehung sie zu der alten Frau und zu Farrel steht, und einen argwöhnischen Nachbarn, der, während er seine Fuchsfallen sortiert, zu Farrel sagt, er wäre besser nie zurückgekehrt. Bevor sich die verwandtschaftlichen Beziehungen klären, die Konflikte verschärfen und Lösungen sich abzeichnen könnten, ist Farrel in der Tiefe einer verschneiten Totale verschwunden. Der Film geht noch eine Viertelstunde weiter, ohne ihn – was im Großen etwas nachzeichnet, was die Kamera im Kleinen immer wieder tut: Sie etabliert einen menschenleeren Raum, in den die Figur erst hineintritt. Die Kamera folgt nun eine Weile den Bewegungen der Figur, verliert sie dann aber aus dem Blick.

In allen vier Filmen kommen Szenen vor, die sich nicht entschlüsseln lassen: Was zum Beispiel ritzt Farrel in „Liverpool“ in den vereisten Torpfosten am Bolzplatz? Warum tut Analía später an einem Zaunpfosten etwas Ähnliches? Weil sie seine Tochter ist? „Liverpool“ gibt dafür zwei vage Anhaltspunkte, mehr nicht. Und wer sind die Toten, an denen die Kamera in der ersten Szene von „Los muertos“ („Die Toten“, 2004) entlangstreift? Die Brüder des Protagonisten? Saß er im Gefängnis, weil er sie umgebracht hat? Auch dafür gibt es einen vagen Anhaltspunkt, aber eben nicht mehr als das. Nur schemenhaft zeichnen sich familiäre Beziehungen ab, Argentino, der Protagonist von „Los muertos“, reist flussaufwärts, weil er nach seiner Tochter sucht, doch er findet sie nicht. Einmal kauft er ihr Bonbons, als wäre sie noch so alt wie zu dem Zeitpunkt, als er ins Gefängnis kam, einmal eine grüne Bluse, ohne zu wissen, welche Größe die richtige ist. Alonso selbst hat einmal im Interview gesagt, er möge es, „Dinge im Ungewissen zu belassen“. Das heißt, dass seine Filme auch an ihrem Ende keine Lösung für ihre Rätsel anbieten. Sie bewegen sich zurück zu einem Nullpunkt, dahin, wo Sinn und Bedeutung noch nicht gegeben sind, wo die Bilder nur für sich stehen und nichts bedeuten wollen.

Heiß und kalt, rot und grün

Das bringt eine neue Intensität des Sehens mit sich. Die Wahrnehmung wird auf die konkreten Reize zurückgeworfen, das macht sie empfänglich für die Hitze (in „Los muertos“ und „La libertad“) und die Kälte (in „Liverpool“), für innen und außen, für die Farbe Rot (in „Liverpool“) und für die Farbe Grün (in „La libertad“ und „Los muertos“), für die Landschaften und die alltäglichen Verrichtungen. Trinken, ein Gürteltier schlachten, es über offenem Feuer zubereiten, essen, scheißen – je konkreter die Situationen, umso elementarer sind sie auch.

■ „Im Niemandsland. Die Filme von Lisandro Alonso“: ab 9. April im Berliner Arsenal-Kino. Programm unter www.arsenal-berlin.de

■ „Liverpool“ läuft ab 15. 4. eine Woche im Arsenal-Kino, im Mai auch in München und Leipzig