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Archiv-Artikel

„Ein Konzert, das uns ausmacht“

JETZT MAL IM ERNST . . . Christian Illies: Was glauben wir, wer wir sind? Kommt immer auf die Epoche an, in der wir leben, sagt der Bamberger Philosoph

Christian Illies

■ 50, wurde in Kiel geboren. Er studierte Biologie in Konstanz sowie Philosophie in Oxford und Paris. Heute ist Illies Philosophieprofessor an der Uni Bamberg. Er forscht vor allem zu Ethik und philosophischer Anthropologie. Er lebt mit seiner Frau und vier Kindern in Coburg.

INTERVIEW MARIA ROSSBAUER

sonntaz: Herr Illies, es gab einmal eine Zeit, in der dachte man: Der Mensch ist seine Säfte.

Christian Illies: Nun ja, die Frage nach dem Menschen hat den Menschen vermutlich immer schon beschäftigt. Und die Naturphilosophie hat immer versucht, die Wirklichkeit auf Grundelemente zurückzuführen. Vor dem 16. Jahrhundert hatte sie keinen Begriff von Atomen oder Molekülen. Da lag es nahe, den Menschen in seinen Säften zu sehen. Denn das, was den Mensch lebend macht, sind die Bewegungen von Flüssigkeiten – Blut, Schleim, schwarze und gelbe Galle. Man erkannte den toten Menschen daran, dass die Säfte sich nicht mehr bewegten.

Was bedeutete diese Sicht für den Menschen damals?

Die Menschen glaubten, dass in uns eine Art Ordnung, eine Balance zwischen verschiedenen Säften oder Kräften bestehen muss. Aus diesem Verständnis konnte man nicht nur heilen, indem man ein Kraut oder eine Pille gab, sondern auch, indem man sein Leben änderte, betete, versuchte, sich seelisch wieder in Gleichklang zu bringen.

Die Frage, was der Mensch ist, war also eine nach seinem Sinn in der Welt.

Sie war immer eingebettet in verschiedene Zusammenhänge. Einmal ist da natürlich der medizinische: Den Menschen verstehen, heißt auch darüber nachdenken, wie man ihn heilen kann. Früher auch mit Blick auf das, was man mit dem Begriff „Seele“ beschrieben hätte. Was auch bedeutete, zu verstehen, was ein harmonisches, ein glückliches Menschenleben ist – oder in einem theologischen Kontext ein gottgewolltes.

Wie war dieses Denken des Großen, Ganzen eingebettet in eine medizinische Sicht auf den Menschen?

Die alte klassische Betrachtung der Natur – und damit auch des Menschen – fragte nach dem Wohin, dem Wozu. Das ist nicht mehr die Frage, die wir in der modernen Naturwissenschaft stellen. Wenn wir wissen wollen, warum etwas da ist, fragen wir heute: Was hat das verursacht? Aristoteles fragte noch: Um wessentwillen ist es da? Diese Frage dominierte die Naturwissenschaften bis zum 16. Jahrhundert, die Biologie bis zum 19. Jahrhundert.

Was hatten die Menschen vor dem 16. Jahrhundert also für ein Bild von sich selbst?

Für die Menschen früher stellte sich nicht so stark die Frage nach ihrem eigenen kleinen Leben, der Blick auf das Ganze war entscheidender. Erst in der Renaissance begann der Mensch, sich als Einzelner ernst zu nehmen. Die Stadtstaaten Norditaliens brachten einen neuen Menschentyp hervor, den selbstbewussten, demokratischen Bürger, der plötzlich selbst aus seinem Leben etwas macht. Dann kam die Reformation hinzu, die sagte: Es kommt auf dich an. Luthers „Ich stehe hier, ich kann nicht anders“ – all diese Entwicklungen rückten immer mehr den einzelnen Menschen ins Zentrum.

Und man konnte sich wissenschaftlich immer mehr erklären. Durch Mikroskope etwa konnte man tatsächlich in den Menschen hineinsehen.

Ja, der Triumphzug der modernen Naturwissenschaft begann. Plötzlich war da eine Dynamik, die einfach alles umwälzte, die Dinge erklären und erschaffen konnte. Die Naturwissenschaft wurde zum Urbild verlässlichen Wissens. Es klappte einfach, wenn man ihre Ergebnisse anwandte. Und das naturwissenschaftliche Wissen ist universell. Die Maschine, die Sie in Kapstadt bauen, funktioniert auch in New Orleans. In den Geisteswissenschaften gibt es dagegen verschiedene Theorien, andere Sprechweisen, einander widersprechende Philosophien, Theologien – Sie kriegen nirgends sonst diese atemberaubende Verlässlichkeit und universale Gültigkeit wie bei der Naturwissenschaft.

Und das veränderte das Menschenbild?

Sogar das ganze Weltbild. Bis zum 16. Jahrhundert war es zum Beispiel noch selbstverständlich, dass man Wunder, Dämonen, Kobolde für wirklich hielt. Wenn jetzt aus Ihrem Telefon ein rosa Elefant gekrochen kommt, sind Sie fest überzeugt, Sie hätten gestern Abend zu viel getrunken. Sie werden zuerst einmal eine rationale Erklärung suchen. Wenn wir im 14. Jahrhundert telefoniert hätten, hätten Sie gesagt: Augenblick mal, ich hab gerade eine Vision, ich ruf gleich zurück, ich muss erst mal den Elefantenkobold vertreiben. Es wäre akzeptabel gewesen. Da hatte man noch keinen Begriff davon, dass die Naturgesetze unerschütterlich funktionieren. Und man hat dann langsam dieses System fester Naturgesetze auf sich übertragen, auf den Menschen.

Es ging also in die Richtung: Der Mensch ist wie eine natürliche Maschine. Passt dazu nicht auch, dass man den Menschen irgendwann über seine Gene definierte?

Aus der modernen Perspektive fragt man nur noch nach der Kausalgeschichte eines Menschen, nach seinen Bestandteilen und Funktionen. Da ist natürlich die genetische Perspektive die naheliegende. Richard Dawkins etwa nennt den Menschen eine „Genmaschine“. Es gibt aber zwei sehr unterschiedliche Strömungen. Die naturwissenschaftliche, deterministische einerseits, eine stark antinaturwissenschaftliche Tradition der Geistes-, Sozial- und Politikwissenschaften andererseits, die bei der Frage nach dem Menschen eine ganz andere Geschichte erzählt.

Die wäre?

Die Marx’sche etwa: Der Mensch wird verstanden durch die Produktionsbedingungen, also die sozioökonomischen Umstände. Dieses Paradigma ist in vielen Geisteswissenschaften und in der Soziologie geblieben, die den Menschen ganz aus seinen gesellschaftlichen Rollen verstehen will, in der die Naturwissenschaft eigentlich gar nicht richtig vorkommt. Das geht so weit, dass wir gerade im 20. Jahrhundert Philosophien haben, die die Naturwissenschaft vollständig ignorieren. Habermas etwa schrieb in den späten fünfziger Jahren, dass die biologisch fundierte Anthropologie zu überwinden sei und durch eine neue Gesellschaftswissenschaft ersetzt werden müsse.

Der Höhepunkt des funktionierenden Menschen war doch etwa in den 90er Jahren, als alles über Gene erklärt und nach einem Bauplan begründet wurde, oder?

Ja, doch seitdem hat die Biologie immer mehr gelernt, dass eben nicht alles mit Genen erklärt ist. Dass der Mensch viel mehr eingebettet ist, das vieles zusammenkommt auf dem Weg von einem Chromosomensatz zu einer Persönlichkeit. Es ist ein Konzert von Faktoren, das uns ausmacht und formt.

Die Mikrobiomtheorie besagt, dass wir Menschen nicht ein Wesen sind, sondern viele. Wie kommen wir heute damit klar?

Erschüttert Sie das?

Es beschäftigt mich. Genau so wie damals, als die Genetik so groß war, dass man dachte, der Mensch ist eine Art Maschine, alles ist vorgeplant. Es überträgt sich auch auf andere Dinge im Leben, etwa den Sprachgebrauch. Früher sagte man: Das steht in den Genen. Dadurch bekamen wir so eine funktionale Denkweise. Wenn ich aber glaube, ich bin eine Symbiose – das ändert schon etwas.

Mir geht es ähnlich. Wenn ich in den Bamberger Keller gehe, sage ich aber immer noch „Ich will ein Bier“ und nicht „Wir wollen ein Bier“. Intuitiv haben wir erst mal keinen Zugang zu solchen Kleinstlebewesen. Die Mikrobiomtheorie bleibt ein Stück weit abstrakt. Das war mit den Genen zunächst ähnlich, die sind ja sogar noch kleiner. Aber das Wissen um die Gene wurde in den letzten 20 Jahren so sehr zum Allgemeinwissen, auch über Bilder, dass wir davon irgendwann eine Vorstellung hatten. In diesem Sinne könnte auch die Mikobiomtheorie uns verändern. Vielleicht sieht sich der Mensch wieder stärker eingebettet in die Natur, da er selbst ein komplexes Ökosystem ist.

Glauben Sie, dass das Wissen um unser Mikrobiom etwas verändert?

Es könnte uns daran erinnern, dass wir durch und durch auch Tier sind. Es täte unserem Verhalten und unserer Umweltpolitik sehr gut, in noch stärkerem Maße zu begreifen, wie sehr wir abhängig sind von einer funktionierenden Natur, um uns ebenso wie in uns. Wie sehr wir ein Teil davon sind. Und nicht einfach neben oder außerhalb von ihr stehen. Die Arroganz der Soziologie und anderer Wissenschaften gegenüber der Biologie hat oft völlig unterschätzt, welche unglaublich subtilen natürlichen Zusammenhänge den Menschen bestimmen. In diesem Sinne könnte etwas von der antiken Weisheit wieder erwachen, die den Menschen vor allem als Teil eines umfassenden Ganzen verstand, in dem er seinen Platz zu finden hat.