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Archiv-Artikel

Kulturkrieger und die Frage: Wer ist Amerika?

Erneuerung oder Überflutung: In den USA wird derzeit heiß und ideologisch diskutiert, ob das Land noch eine Einwanderungsgesellschaft sein soll

Wenn es zuletzt auf den Straßen amerikanischer Städte Massenkundgebungen gab, war Präsident Bush in der Regel der Adressat des Protestes. Als während des republikanischen Nationalkonvents in New York etwa eine halbe Million Menschen demonstrierten, waren Parolen wie „Impeach the Liar“ und „Fire Bush“ auf den Transparenten zu lesen. Und so wird sich Bush, dessen Zustimmung in der Bevölkerung immer neue Tiefstände erreicht, gewiss gefreut haben, dass die Demonstranten in Los Angeles, San Francisco und Detroit jetzt auf seiner Seite sind.

Auf den Schildern, die zumeist lateinamerikanische Marschierer durch die Straßen trugen, waren Sätze zu lesen wie „We Are America“ und „Justice for Immigration“. Der Zorn der Einwanderer wurde durch eine Gesetzesvorlage erregt, die unter dem Eindruck der Proteste vom Justizausschuss des US-Senats zwar sofort entschärft wurde, aber zeigt, dass eine liberale Einwanderungspolitik in den USA unter Druck steht. Der Entwurf sollte illegale Gastarbeiter kriminalisieren: Ohne Papiere in den USA zu leben und zu arbeiten sollte fortan keine Ordnungswidrigkeit mehr sein, sondern eine Straftat, ebenso wie die Beihilfe zum ungesetzlichen Aufenthalt. Dazu würde es gehören, den etwa 11 Millionen Chicanos ohne Pass einen Job zu geben oder eine Wohnung zu vermieten.

Das findet George Bush nicht richtig. In einer Rede pries er die große Tradition Amerikas, Einwanderer willkommen zu heißen, und unterstrich, dass die USA eine multikulturelle Gesellschaft sind. „Jede Generation von Einwanderern bringt eine Erneuerung unseres nationalen Charakters mit sich und trägt zur Vitalität unserer Kultur bei“, sagte er. Doch Bush ist nicht etwa plötzlich zum liberalen Multikulturalisten mutiert. Er ist lediglich zu jener Einwanderungsagenda zurückgekehrt, die schon lange vor dem 11. September auf seinem politischen Fahrplan stand. Bush möchte ein Gastarbeitergesetz, das den Einwanderern eine begrenzte Aufenthaltszeit ohne Bürgerrechte erlaubt. Die Idee geht auf seine Zeit als Gouverneur von Texas zurück, wo ihn seine Unternehmerfreunde in Houston und Dallas davon überzeugten, dass billige Arbeitskräfte aus Tijuana und Nuevo Laredo gut für Amerika sind. Und völlig unproblematisch, solange man sie nach ein paar Jahren wieder heimschickt.

So einfach lassen die konservativen Ideologen im Parlament und in der eigenen Partei allerdings George Bush nicht davonkommen. Allen voran der republikanische Abgeordnete Tom Tancredo, der es in der Einwanderungsfrage auf einen Zusammenprall mit seinem Präsidenten ankommen lässt. Tancredo hat klar gemacht, dass es hier nicht um die amerikanische Wirtschaft geht, sondern darum, dass die „westliche Zivilisation selbst“ von dem bedroht ist, was da vom südlichen Halbkontinent nach Texas, Kalifornien und Neu Mexiko strömt. Tancredo schwadroniert über den „Kult des Multikulturalismus“, den es zu bekämpfen gelte, und ist entschlossen, wie die Polit-Zeitschrift The New Republic beobachtet, das Thema zum zentralen Thema des kommenden Präsidentschaftswahlkampfes zu machen.

In der Tat ist der Furor, den die Senatsdebatte entfacht hat, nur damit zu erklären, dass es sich um eine Fortsetzung des amerikanischen Kulturkampfes zwischen Liberalen und Konservativen handelt. So sind die wirtschaftlichen Probleme der Einwanderung gemäß einer neuen Harvard-Studie vergleichsweise banal: „Die Gesundheitsreform von Bush unterminiert die Finanzierung unseres Sozialsystems um ein Vielfaches schlimmer als das Problem der illegalen Einwanderer“, fasst Kolumnist Paul Krugman die Studie in der New York Times zusammen. Dennoch erhitzt die Einwanderung und nicht die Krankenversicherung die Gemüter.

Tancredo und seine Fraktion setzen mit der jetzigen Diskussion den Nativismus des neokonservativen Vordenkers Samuel Huntington in dem Moment auf die Tagesordnung, in dem die neokonservative Bewegung durch das Irakdebakel an Schwung verloren hat. Vor zwei Jahren hatte Huntington in seinem Buch „Who We Are“ davor gewarnt, dass integrationsunwillige Mexikaner die USA überfluten und eine Parallelgesellschaft bilden, die von den Werten der Mehrheit nichts wissen will. Hillary Clinton hat die Offensive der Konservativen damit gekontert, dass sie die Kriminalisierung der Immigranten für unchristlich erklärte. Durch den Schachzug hat sich die Präsidentschaftsanwärterin die Unterstützung der katholischen Kirche gesichert. Bush scheint auf diesem neuen Schlachtfeld des Kulturkrieges schon jetzt eher eine Randfigur zu sein. SEBASTIAN MOLL