: Der Mann, der nicht verlieren kann
Eigentlich ist das Rennen um das Amt des Regierenden Bürgermeisters schon entschieden: Klaus Wowereit wird es noch mal werden. Friedbert Pflüger, sein Herausforderer, steht mit dem Rücken zur Wand – und wirkt gerade deswegen entspannt. Er weiß: Schlimmer kann es für die CDU nicht werden
von MATTHIAS LOHRE
Der Mann, der mit einer Akte unterm Arm den Raum mit den hohen, gelb gestrichenen Decken betritt, sieht nicht aus, als verfolge er ein nahezu unerreichbares Ziel. Mit dem hellblauen, locker sitzenden Pullover unter dem nicht mehr ganz frisch rasierten Gesicht wirkt er vielmehr wie ein Manager am Wochenende. Wie einer, der unter Mühen gelernt hat, den stressigen Job loszulassen. Es ist aber nicht Wochenende. In einer Stunde wird der Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Friedbert Pflüger, im Bundestag, gleich auf der anderen Seite des Platzes, auf der Regierungsbank Platz nehmen. Und loslassen will er schon gar nicht. Der CDU-Politiker hat gerade erst angefangen, sich um einen neuen, stressigen Job zu bewerben – den des Regierenden Bürgermeisters. Dass der 51-Jährige bei alldem so entspannt wirkt, hat andere Gründe. Einer davon ist ganz einfach: Friedbert Pflüger kämpft mit dem Rücken zur Wand.
Draußen hinterm Fenster fahren die schwarzen Limousinen der Abgeordneten vor. Der Bundestag debattiert über den Haushalt. Das ist Pflügers Arena. Sie könnte es bleiben. Seit 1990 ist er Bundestagsabgeordneter, er saß im Verteidigungsausschuss, war abrüstungspolitischer und später außenpolitischer Fraktionssprecher. Erst vor vier Monaten erreichte er seinen vorläufigen Karrierehöhepunkt: Pflüger wurde Staatssekretär.
Warum hat sich der Hannoveraner nur zwei Monate später bereit erklärt, im Namen der tief zerstrittenen Hauptstadt-CDU den unbesiegbar scheinenden SPD-Amtsinhaber Klaus Wowereit herauszufordern? Die Union kam in Sonntagsfragen auf 19 bis 23 Prozent, SPD und Linkspartei lagen gemeinsam stabil um die 50 Prozent. Weit und breit war und ist keine Wechselstimmung in Sicht. Warum will Pflüger die Chronik einer angekündigten Niederlage schreiben?
Seine Augenlider senken sich. Diese Frage hat er schon oft gehört, nicht nur von Journalisten. Als die Hauptstadt-Union im Januar auf ihrer langen, peinlichen Suche nach einem Spitzenkandidaten für die September-Wahl auf Pflüger aufmerksam wurde, da rieten ihm selbst gute Parteifreunde ab. Alle Wunschkandidaten haben abgesagt, lass dich nicht als sechste, siebte Wahl verlachen, sagten sie. Die Lage sei doch aussichtslos. Der zerstrittene und zutiefst provinzielle Landesverband gehöre am besten aufgelöst und neu gegründet.
Zu den Warnern zählten die Ministerpräsidenten Günther Oettinger und Christian Wulff. Der drei Jahre jüngere Wulff steht Pflüger in seiner niedersächsischen Heimat auf absehbare Zeit bei seinen politischen Ambitionen im Weg. Auf dem flachen Land wird Pflüger nicht mehr Regierungschef werden. Pflüger hat keine Chance, also nutzt er sie.
In seinen eigenen Worten klingt das freilich etwas anders. „Berlin hat etwas Besseres als die rot-rote Koalition verdient“, beispielsweise. Oder: „Es ist der rot-rote Senat, der viele von einem Engagement in Berlin abschreckt. Wenn ein normaler Mittelständler nicht ein besonders ausgeprägtes Interesse an der Stadt Berlin hat, wird er immer einen anderen Standort bevorzugen.“ Kurz: Er und die CDU würden mehr Geld anlocken als SPD und PDS. Eine kaum verhüllte Drohung ist sein Hinweis, die Bundesländer würden selbst nach einer erfolgreichen Verfassungsklage Berlins auf Entschuldungshilfen keinen Finger rühren für die arme Hauptstadt. Nicht solange die Sozialisten mitregieren.
Doch selbst solch schweres Geschütz bewegt die Berliner nicht zum Parteiwechsel. Wowereit kennt jeder, aber wer ist Friedbert Pflüger? Die Union liegt in Wahlumfragen nach zwei Monaten Werbetour immer noch bei matten 24 Prozent. Also, Herr Pflüger, warum tun Sie sich das an? Von einem Moment zum nächsten hellt sich seine Miene auf. Die Muskeln auf Stirn und Wangen heben sich, und er sagt: „Ich glaub’, ich schaff’s. Ganz ehrlich!“ Na, und wenn nicht, dann gebe es immer noch die nächste Abgeordnetenhauswahl im Jahr 2011. Bis dahin will er die verstockte Berliner CDU liberalisieren, eventuell als Landesvorsitzender, und nebenbei als Staatssekretär weiterarbeiten. Nach Niedersachsen kann er dann nicht mehr zurück.
Vielleicht hat Pflüger ja tatsächlich „einen kleinen Hau“, wie manche Parteifreunde sagten. Vielleicht steht er auch nur gern mit dem Rücken zur Wand. Deshalb greift auch das Klischee vom eilfertigen Karrieristen zu kurz.
Sicher, Pflüger schreibt Bücher, die pompöse Titel tragen: „Weckruf für Europa“ etwa, oder „Ein Planet wird gerettet“. Aber er hat auch „Ehrenwort“ geschrieben, seine Abrechnung mit dem Macht- und Patronagesystem Helmut Kohls. Freunde hat er sich damit nicht gemacht, auch wenn das Buch erst nach Kohls Sturz erschien. Ein Karrierist hätte sich 1993 nicht gegen den von Kohl vorgeschlagenen, als rechtslastig kritisierten Präsidentschaftskandidaten Steffen Heitmann ausgesprochen.
Warum kommt in der Öffentlichkeit keine breite Sympathie auf für den als liberal geltenden Pflüger? Obwohl er am grauen Wintermorgen des Weltfrauentages um 7 Uhr Rosen an Passantinnen verteilt? Obwohl er um viertel vor acht mit Berliner Wirtschaftsvertretern diskutiert? Obwohl er, ein Käppi auf dem Kopf und eine Fackel in der Hand, eine Mahnwache abhält vor dem von Schließung bedrohten JVC-Werk in Reinickendorf? Selbst in das Symbol Gesamtberliner Gewöhnlichkeit, die Currywurst von Konnopke an der Schönhauser Allee, beißt er vor Kameras. Pflüger zeigt sein „Sie müssen jetzt sehr stark sein“-Gesicht bei „Sabine Christiansen“. Beim N24-Politplausch „Was erlauben Strunz?“ erzählt er gar von seiner keuschen Jugendliebe zu Bärbel aus Ostberlin, die er 1974 am Müggelsee traf, während der Fußball-WM. Warum hat nicht einmal der Verweis auf Bärbel geholfen? Warum haben all die Schufterei und der erduldete Hohn bislang nichts eingebracht?
Zur Antwort gehört natürlich der Hinweis auf die traditionell linke Wählerschaft in Berlin, die sich nur der Union zuwendet, wenn die SPD allzu offensichtlich unfähig ist. Die Hauptstädter erinnern sich auch noch gut an den Unions-Filz, der 2001 zum Ende der schwarz-roten Koalition beitrug. Zur Antwort gehört aber noch etwas. Der Kandidat selbst.
Friedbert Pflüger spiegelt den Doppelcharakter seiner Partei. „Wir verstehen uns als Partei der kleinen Leute“, sagt er. Aber nicht die kleinbürgerlichen Viertel sind die Parteihochburgen, sondern die wohlhabenden Gegenden wie Zehlendorf und Wilmersdorf. In den ärmeren Gegenden, insbesondere im Osten, ist sie schwach. Pflügers Oberlehrerhabitus passt eher zur ersten Zielgruppe. Sein präsidiales Gehabe ähnelt dem der CDU-Honoratioren alten Schlags: Adenauer, Kiesinger, Weizsäcker. Nicht den Kohls und Straußens. Pflügers Auftreten soll würdig wirken. Aber er ist nicht Bundeskanzler oder Bundespräsident. Er ist seit vier Monaten Staatssekretär.
Sein Verhalten wirkt unpassend und unzeitgemäß. Das wird er nicht mehr abschütteln können, dafür hat er das Vorbild Richard von Weizsäckers zu sehr verinnerlicht. Von 1981 bis 89 hat der junge Pflüger für ihn gearbeitet. Zunächst als Bürochef des Regierenden Bürgermeisters von Westberlin, seit 1984 als Pressesprecher des Bundespräsidenten. Der salbungsvolle Tonfall klingt bis heute an, wenn der Jüngere spricht. Wenn er beispielsweise ankündigt, er würde das erst vor kurzem beschlossene Gesetz zum Ethikunterricht wieder ändern. Die CDU wolle die Wahlfreiheit zwischen Religions- und Ethikunterricht. Auch in diesem Raum mit den hohen, gelben Decken spricht Pflüger seinen in jüngster Zeit oft wiederholten Satz: „Ich werde mich von niemandem übertreffen lassen in Sachen Toleranz gegen andere Religionen und Lebensentwürfe.“ Umgeben von teuren Stühlen und livrierten Dienern wirken die Worte weniger abgehoben, aber genauso abstrakt.
Beim Umgang mit Kriminalität bedient der Liberale Pflüger die klassische Sehnsucht der CDU-Wählerklientel nach Schutz vor der unbekannten Bedrohung. „Null Toleranz“ will er gelten lassen gegen Gesetzesverstöße. Dabei geht es ihm vor allem um Graffitisprayer, Ladendiebstähle und den Kampf gegen Verwahrlosung. Hierbei hat der Vorbild-Sucher gleich zwei Männer, denen er nacheifern will: den New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg und dessen Vorgänger Rudolph Giuliani.
Was hat der Kandidat noch vor bis zum 17. September? Im Stillen schart er fähige, von seinen Vorgängern vergraulte CDU-Leute um sich. Sein erster Personalcoup war es, Konzertveranstalter und Kulturunternehmer Peter Schwenkow zur Kandidatur zu überreden. Medienwirksam soll der im Wahlkreis Grunewald gegen Wowereit antreten. Pflüger selbst bedient die unstillbare Sehnsucht der Berliner nach vermeintlicher Volksnähe: Er kandidiert im Neuköllner Wahlkreis Britz. Das gilt als bodenständig – auch wenn jeder wissen kann, dass Pflüger sich hier noch weniger auskennt als im Rest Berlins. Hier kandidierten auch Eberhard Diepgen und sein großes Vorbild, Richard von Weizsäcker.
Der Mann, der am Ende des Gesprächs ruhig seine Aktenmappe und das permanent klingelnde Handy einpackt, wirkt vielleicht doch wie einer, der ein unerreichbares Ziel verfolgt. Aber das bedrückt ihn nicht. Er weiß: Entschieden wird die Wahl erst nach der Fußball-WM, in einem extrem kurzen Wahlkampf. Er weiß auch, er verdankt seine Kandidatur keiner Politseilschaft, zugleich liegt ihm der Landesverband zu Füßen. Der Kandidat hat nichts zu verlieren außer seinen Vorbildern. Weil er mit dem Rücken zur Wand steht, ist er frei.