Für immer mit Kafka

Wo das Denken den Geheimnissen weicht: Jan Peter Bremers kurzer Roman „Still Leben“

Am Anfang war der Zuckerguss: Eine schaurig-heimelige Visitenkarte aus dem Betthupferlland. Ein Einzimmerhäuschen in den Bergen, ein Strahlemann, eine hübsche Frau, zwei manierliche, wohlerzogene Kinder, ein Garten voller Blumen. Alle haben sich lieb und deshalb ist die Enge im Haus „der größte Reichtum“. Zwischen diesem Zerrbild einer familiären Idylle und dem Ende dieses neuen Buches des Berliner Schriftstellers Jan Peter Bremer, da die Kinder erwachsen sind und mit der von einem anderen Mann schwangeren Mutter das Haus verlassen haben, spult sich das mysteriöse Geschehen hochgradig fiebrig ab. Ungerührt, als ein sich mehr und mehr Ausschließender – und von den andern Ausgeschlossener – beobachtet der Mann, was sich alles um ihn herum zuträgt. Der Tisch ist sein Ort, sein Fluchtort, dort verharrt er stoisch Nacht für Nacht, mit Papier und Stift.

Wer Jan Peter Bremers Sätze wortwörtlich nimmt, ist verloren. Wer ihnen arglos hinterherläuft, geht in die Irre. Und dem, der gleich mit dem ganzen Kopf durch die Textwand will, vergeht Hören und Sehen. Dabei erzählt der Autor seinen neuen Roman „Still Leben“ in einer Sprache, die glasklarer nicht sein könnte. Wie mit dem Messer ins Eis geritzt, entsteht der Stoff, erscheint Bild um Bild, gerät, radikal reduziert, eine rasante, bodenlose Handlung in Bewegung.

„Mein lieber Freund“ schreibt der Mann über jedes Blatt, dann folgt die Dokumentation des gegenwärtigen Familienzustands, (s)ein über die Seiten, konsequentes, zielgerichtetes, Schritt für Schritt in die Katastrophe mündendes Losmarschieren – ein bloßes Treten, an Ort allerdings: Zwanghaft, willenlos, wie eine kaputte, mechanische Blechfigur.

Die Leuchtkraft von Jan Peter Bremers Szenen ist so, als säße man im Theater vor gleißender Bühne. Oder mittendrin im Zimmer, am Geburtstag des Mannes zum Beispiel. Und man schaute ihm zu, wie er das Geschenkpäckchen zweimal vom Tisch wischt, weil Feste die Harmonie des erfüllten Lebens stören. Doch dann hält er das Geschenk – eine Wäscheleine– weinend vor Rührung in den Händen. Die Frau, heißt es einmal, „greift nach dem Moment wie ein Künstler“. Und so wird sie, wenn die Zeit gekommen ist, ein Laken an das Seil hängen und den Raum in zwei Hälften trennen. Der Mann, allein auf seiner Seite, wird von da an ein Horchender sein.

Franz Kafka sei in der Literatur anwesend, sagte in Klagenfurt schon 1996 ein Juror, als Jan Peter Bremer den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb gewann. Daran hat sich überhaupt nichts geändert. Der Schreibwille des Autors zielt in Richtung seines Vorbilds, also ist die Form gesetzt. „Still Leben“ ist als Parabel zu lesen, die Übersetzung seiner Zeichengebung in reale Werte ist gefragt –individuell.

Man staunt und ist aus dem Takt gebracht – und manchmal lacht man auch. Vor sich hat man ein Vier-Figuren-Kabinett, geordnet mit wenigen, brillant präzisen Strichen. Und mit fürstlich opulenter Erfindungskraft. Ein schmales Buch über ein stilles Leben? Ein Stillleben? Eine nature morte? Ja – Kafka würde nicken–, dann, wenn man es liest als Geschichte eines, der sein Leben dem Schreiben opfert. Aber Jan Peter Bremers kurzer Roman ist weit entfernt von jeder Rätselfrage. Er ist dort zuhause, wo das Denken den Geheimnissen weicht. SILVIA HESS

Jan Peter Bremer: „Still Leben“. Kurzroman, Berlin Verlag, Berlin 2006, 88 Seiten, 16 Euro