Für immer die Toten

Passagenweise exzellent erzählt, dann wieder bedeutungsschwer und aufgeblasen: Sibylle Lewitscharoff fällt mit ihrem Roman „Consummatus“ ins literarische Delirium

VON JÖRG MAGENAU

Man nehme ein halbes Pfund griechische Mythologie, mehrere gut abgehangene amerikanische Pop-Ikonen und eine Prise Christentum mit religionswissenschaftlicher Würze. Dazu gebe man einen kräftigen deutschen Geschichtsknochen mit Naziaroma zum Auskochen, lösche reichlich mit russischem Wodka ab, und fertig ist das literarische Delirium, in das sich Sibylle Lewitscharoff mit ihrem Roman „Consummatus“ begibt. Der Titel spielt auf die letzten Worte Jesu am Kreuz an – Consummatum est, es ist vollbracht. Er bezeichnet aber auch den Alkoholkonsum, der wohl nötig ist, wenn man sich mit den Toten unterhalten will. Denn darum geht es. Orpheus muss mal wieder ganz dringend zu seiner Eurydike.

Die Seelen der Toten halten sich normalerweise mit gutem Grund in einem nicht näher bestimmbaren Jenseits oder in der Unterwelt auf. Schließlich hat die arme Erde an den Lebenden schon genug zu tragen. Doch Sibylle Lewitscharoff will es dabei nicht belassen. Sie holt das „Dort“ ins Hier und Heute zurück und gibt ihm einen exakten Ort: Das Café Rösler in Stuttgart. Auch das Datum wird präzise genannt: Samstag, der 3. April 2004, Vormittag. Über rosa Tischdecken, Zierpflanzen und Zuckerstreuern schweben die Seelen von Jim Morrison, Andy Warhol und Edie Sedgwick herum, denn sie begleiten die tote Joey, eine Eurydike, die zu Lebzeiten Sängerin gewesen ist. Mit ihrer enormen Langbeinigkeit, blendenden Blondheit und zerstörerischen Drogensucht erinnert sie fatal an die Neuköllnerin Nico, die einst mit Lou Reed und Velvet Underground Berühmtheit erlangte. Doch was nützt es einer Eurydike, singen zu können? Sie weiß: „Von uns aus ist kein Zurücksingen auf die andere Seite möglich.“

Orpheus aber kann nicht singen. Zwar hört er gerne Musik, kennt alles von Bach und von Bob Dylan und heißt sogar Zimmermann – allerdings nicht Robert, sondern bloß Ralph, was knapp daneben liegt. Er ist Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte, 55 Jahre alt und beruflich entsprechend desillusioniert, sodass er sich jeden Samstag gepflegt mit Wodka ins Delirium befördert. „Desolation Row“ ist seine Erkennungsmelodie. „Knocking on heavens door“ wäre vielleicht doch ein bisschen zu platt gewesen. Da sitzt er also und trinkt, während die Toten ihn umflirren und umflüstern. Ihr Text ist in blasserem Druck abgesetzt, damit es so aussieht wie eine Schattenschrift aus dem Jenseits. Was die Toten im Café Rösler aber zu sagen haben, ist ziemlich läppisches Zeug. Wenn die Ewigkeit so aussieht, dann will man nicht sterben müssen.

Ralph Zimmermann ist sehr belesen. Er zitiert Kafka, Handke, Michaux, Strindberg, Rilke, Benn und viele andere, sodass die Toten ihn für einen „Krückendenker“ halten, der sich von Merksatz zu Merksatz hangelt: „Sobald sich unser Held in unsere Richtung bewegt, braucht er einen Gewährsmann, der ihn einen Gedanken weit begleitet.“ Das ist ganz richtig beobachtet, denn tatsächlich fragt man sich bei der Lektüre, warum der monologisierende Held nicht einfach erzählt, anstatt unentwegt Bildungssentenzen von sich zu geben. Aus seinen Erinnerungen, die sich allmählich zu einer Biografie runden, hätte ein gelungener Roman werden können. Die Toten und ihr Gequatsche hätte man kein bisschen vermisst. Dieser Roman hätte von den Eltern gehandelt, die als Flüchtlinge aus dem Osten nach Stuttgart kamen, um sich dort in einem winzigen Haus „einzuzwergen“. Er hätte von der Kindheit berichtet, als ein Junge aus der Nachbarschaft tödlich verunglückte und Ralph begann, „Todeslisten“ anzulegen. Und er hätte den Tod der Eltern geschildert, die bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen. Auch die Liebesgeschichte zwischen Ralph und Joey, die tragisch endet, hätte Stoff genug abgegeben.

Dass Sibylle Lewitscharoff, 1954 in Stuttgart geboren, eine exzellente Erzählerin sein kann, beweist sie in diesen Abschnitten, in denen sie allen mythologischen Schnickschnack und alle Bedeutungshuberei kurzzeitig vergisst. Doch leider will sie mehr. Joey bekommt auch noch das ganze „Gerümpel der deutschen Geschichte“ aufgehalst. Sie muss Nibelungen-Lieder singen und zum Star einer neuen germanischen Welle werden. Selbst Rudolf Heß lässt sich „mit grämlichem Stimmchen“ aus dem Totenreich vernehmen. Was er da zu suchen hat, ist nicht zu ergründen. Aber wenn selbst Andy Warhol motivationslos im Café Rösler herumschwebt, warum sollten die alten Nazis sich fern halten? Sie sind doch immer gut für einen Gruseleffekt.

Sibylle Lewitscharoff hat 1998 für ihren Debütroman „Pong“ den Ingeborg-Bachmann-Preis erhalten. Die Skurrilität der Einfälle war da in einem skizzenhaft verknappten Stil formal gebunden. Reduktion und Präzision waren die großen Tugenden dieser witzigen, brillanten Prosa. In „Consummatus“ ist davon nicht viel zu finden. Kaum zu glauben, dass ein so bedeutungsschwer aufgeblasener Roman, der leider auch kein bisschen ironisch ist, von der selben Autorin sein soll.

Sibylle Lewitscharoff: „Consummatus“. DVA, Stuttgart 2006, 236 Seiten, 18,90 Euro