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Archiv-Artikel

Später Ruhm

Verliebt in die deutsche Sprache, kein Freund von Schachtelsätzen: ein Besuch bei Edgar Hilsenrath, der am Sonntag seinen 80. Geburtstag feiert

Hilsenraths Roman „Nacht“ erzählt, wie das Sterben aussieht und wie man in einem Ghetto überlebt

VON JÖRG SUNDERMEIER

„Was willst du in Deutschland, Lesche?“ „Ich will zu meiner Geliebten.“ „Lesche, sei kein Narr, du bist ein alter Mann, eine Geliebte, die ist was für einen jungen.“ „Ich bin 58“, sagte Lesche, „das ist nicht alt.“ „Lesche, willst du dich zum Gespött der Leute machen? Sicher ist sie jung und schön, hat Ansprüche, und du willst als Lustgreis hinter ihr hertappern.“ „Lustgreis? Du spinnst wohl?“ „Spaß beiseite“, sagte Betti. „Wer ist diese Geliebte?“ „Du hast recht. Sie ist schön, aber nicht jung. Ich habe mich in sie verliebt, als ich neun war, damals in Polen. Ich wurde von ihr getrennt, aber ich bin ihr treu geblieben, ein Leben lang.“ „Lesche, bist du sicher, dass sie noch lebt?“ „Ja, ich bin sicher.“ „Wer ist diese Geliebte?“ „Ich bin verliebt in die deutsche Sprache.“

Das ist ein Auszug aus Edgar Hilsenraths Roman „Berlin … Endstation“, erscheinen wird das Buch voraussichtlich im Mai. Eigentlich sollte es zu Hilsenraths 80. Geburtstag am Sonntag erscheinen, doch, so der Verleger, das Lektorat habe sich noch ein bisschen hingezogen. Dass überhaupt noch ein Roman von Hilsenrath erscheinen würde, stand nicht zu hoffen. Der Piper Verlag, zuvor Hilsenraths Verlagshaus, hatte vor einigen Jahren den Besitzer gewechselt, und die neuen Besitzer, so erzählt Hilsenrath, gaben ihm die Rechte an seinen Werken zurück. „Die Verkäufe waren wohl nicht mehr so.“

Hilsenrath lebt in Berlin-Steglitz, in einer Wohnung, die er 1976 bezogen hat, ein Jahr nachdem er nach Berlin übergesiedelt war. Es ist eine kleine Wohnung, zwei Zimmer, Küche, Bad, doch Hilsenrath hat sich an sie gewöhnt. „Sie ist klein, reicht aber aus.“ Immerhin konnte er sie vor ein paar Jahren kaufen, finanziell geht es ihm nicht schlecht. Berlin ist die „Endstation“ eines langen, zumeist unfreiwilligen Reisens. Geboren wird Edgar Hilsenrath in Leipzig, in Halle (Saale) geht er zur Schule. „Ich war das einzige jüdische Kind in der Klasse, und das war im nationalsozialistischen Deutschland kein Vergnügen.“ Im Sommer 1938 emigriert die Mutter mit Edgar und seinem Bruder nach Siret, Rumänien, dort leben die Großeltern. Der Vater, der zunächst in Deutschland bleibt, um seine Geschäfte abzuwickeln, kann nach der Reichspogromnacht nach Frankreich fliehen, die Eltern werden knapp zehn Jahre getrennt sein. 1941 wird die Familie deportiert. „Am 14. Oktober wurden wir abtransportiert. Die Züge rollten nach Osten. Man brachte uns ins jüdische Ghetto der ukrainischen Ruinenstadt Moghilev-Podolsk am Dnjestr. Viele der Deportierten wurden erschossen. Im Ghetto herrschten Hunger und Typhus. Die meisten hatten kein Dach über dem Kopf, kein Spaß im russischen Winter. Wie das große Sterben aussieht und wie man in solch einem Ghetto überlebt, das habe ich in meinem Buch ‚Nacht‘ beschrieben, ohne Beschönigung, so wie es wirklich war“, schreibt Hilsenrath in den Siebzigerjahren.

Die Familie wird 1944 von der Roten Armee befreit, Edgar geht zu Fuß zurück nach Siret, findet die Stadt zerstört und geht nach Bukarest. „Kurz darauf reiste ich mit einem gefälschten Pass nach Palästina, auf dem Landweg über Bulgarien, Türkei, Syrien und Libanon. Für mich war der Krieg zu Ende.“ In Palästina erfährt er, dass sich seine Eltern in Frankreich gefunden haben, er reist hin, geht von dort aus in die USA, die Eltern folgen. 1975 dann zieht Hilsenrath nach Berlin. Im Gepäck hat er seinen Roman „Nacht“, der 1964, nachdem er 13 Jahre an ihm geschrieben hat, im Kindler Verlag erscheint, in einer Kleinstauflage. Das Buch erscheint allerdings mit Erfolg in den USA, so auch der nächste Roman „Der Nazi & der Friseur“, der ein Welterfolg wird. Das Buch, wie alle Texte Hilsenraths auf Deutsch geschrieben, findet jedoch keinen Verleger in Deutschland. Texte, in denen die Obszönität im Ghetto thematisiert wird, sind ebenso wenig gern gesehen wie eine Satire auf die deutschen Täter. Erst der Kleinverleger Helmut Braun, heute Herausgeber seiner Werke, nimmt sich des Autors an und verschafft Hilsenrath auch hierzulande einen Erfolg. Später, nach einigen Wirren und einigen Romanen, landet Hilsenrath beim Piper Verlag, „Der Nazi & der Friseur“ überschreitet die Millionenauflage, seine Romane „Märchen vom letzten Gedanken“ oder „Jossel Wassermanns Heimkehr“ werden Erfolge.

Doch eine offizielle Anerkennung bleibt weitgehend aus. Für Verfilmungen finden sich keine Finanziers. Obschon seine Texte sehr dialogisch sind, war nie ein Theater an Hilsenrath interessiert. Der Literaturbetrieb öffnet sich ihm nicht. „Der hat mich auch nicht interessiert, ich habe auch nicht an ihm teilgenommen“, betont Hilsenrath. Er sieht sich nicht als deutscher Autor, er steht auch in keiner deutschen Literaturtradition, und er pflegt keine Autorenfreundschaften. „Ich bin nur insofern ein deutscher Autor, als dass ich in deutscher Sprache schreibe.“ Vorbilder für den Realismus seiner Texte, die Klarheit seiner Sätze hat Hilsenrath zunächst bei dem Emigranten Erich Maria Remarque gefunden, dann bei Hemingway. „Ich mag keine Schachtelsätze“, sagt er. Daher entwickelte er einen für die deutschsprachige Literatur völlig neuen, trockenen Stil.

Hilsenrath teilt, gewissermaßen als Spätgekommener, das Schicksal der Emigranten, die nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in Deutschland Fuß fassen wollten. Vielen von ihnen gelingt es nie wieder, den vorherigen Rang einzunehmen. Hilsenrath wird ähnlich ignoriert. Erst in den letzten Jahren hat sich die Lage verändert. Der Dittrich Verlag veröffentlicht seit 2003 eine Werkausgabe, die Romane erscheinen wieder im Taschenbuch, Verfilmungen sind geplant. Vor zwei Jahren erhielt Hilsenrath den Lion Feuchtwanger Preis, in diesem Jahr den Deutschen Hörbuchpreis. „Möchten Sie ihn sehen?“, fragt Hilsenrath, „die Trophäe steht im Flur.“

Hilsenrath sitzt auf seinem Sofa. Nein, er schreibt seit zwei Jahren nicht mehr. Was er macht? „Lesen. Freunde treffen.“ Oder er korrigiert die letzten Seiten einer Biografie über ihn, die demnächst erscheint. Ist er zufrieden? Hilsenrath antwortet ohne zu zögern. „Ich habe mein Auskommen.“