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Archiv-Artikel

Verlorene Schulen

Die Debatte ist entbrannt: Gehört die Hauptschule abgeschafft? Die taz-Umfrage

VON MAX HÄGLER, KAIJA KUTTER, BORIS ROSENKRANZ, OLIVER STORTZ UND ALKE WIERTH

„Hauptschulen sind Verliererschulen.“ Nach der Kapitulation des Kollegiums einer Berliner Hauptschule vor den dortigen Zuständen bringt mit diesen Worten Christian Pfeiffer, Leiter des Kriminologischen Forschungsinstitutes in Hannover, die Debatte auf den Punkt, die in Deutschland geführt wird: Welchen Sinn hat diese Schulform noch? Immer mehr Schuldirektoren, so eine taz-Umfrage, zweifeln an der Zukunft der Hauptschule, wie sie derzeit besteht.

Ausgelöst hatten die Debatte die Lehrer und Lehrerinnen der Rütli-Hauptschule in Berlin-Neukölln. Die Pädagogen hatten sich in einem Brief an die Schulbehörde über die Gewaltbereitschaft und das „menschenverachtende Auftreten“ vieler Schüler an ihrer Schule beklagt. Sie forderten die Auflösung der Schule „in dieser Zusammensetzung“. Die Schule, deren Schüler zu 80 Prozent nichtdeutscher Herkunft sind, sei geprägt von „Aggressivität, Respektlosigkeit und Ignoranz“.

Doch wie ist es andernorts? Bleibt nur der Abschied von der Hauptschule?

In Hamburg jedenfalls ist die Abschaffung der Hauptschulen schon fast beschlossene Sache. CDU-Bildungssenatorin Alexandra Dinges-Dierig setzt sich für eine neue „Stadtteilschule“ ein, in der die Hauptschulen mit den Real- und Gesamtschulen verschmelzen. Anstoß waren die schlechten Pisa-Ergebnisse – jedoch nicht die Fälle von Gewalttaten.

Vor zehn Tagen stach ein Schüler in Hamburg einen Mitschüler an einer Bushaltestelle nieder, Anfang März schlugen ehemalige Schüler einen Lehrer krankenhausreif, und im Herbst verletzte ein 13-Jähriger einen Mitschüler am Kopf so stark, dass er ins Koma fiel.

Dennoch meint Nico Struß, in Hamburg seien Gewalttaten Einzelfälle. Struß leitet die Hauptschule Röthmoorweg im sozialen Brennpunkt Schnelsen-Süd. Er ist für die Abschaffung der Hauptschulen. Aber: „Das Problem ist nicht die Gewalt, die bekommt man in den Griff.“ Viel schlimmer sei, dass die Absonderung in eine Restschule ohne berufliche Perspektive die Kinder psychisch belaste. Struß: „Das führt zu Leistungsverweigerung, Lustlosigkeit und Absentismus.“

Die Politik verschließe seit Jahren die Augen davor, dass Problemkinder „in Hauptschulen abgeschoben würden“, sagt auch Udo Beckmann, Vorsitzender des Landesverbandes NRW des Lehrerverbandes Bildung und Erziehung. Gewalt sei eine Reaktion darauf, dass Jugendliche keine Perspektive sähen.

Zustände wie an der Neuköllner Hauptschule sieht Udo Busch, Leiter der Gustav-Adolf-Hauptschule im westfälischen Herne, in NRW aber nicht. Für ihn liegt das Problem auch im hohen Ausländeranteil: „Mit 80 Prozent ausländischen Schülern haben die in Berlin eine ganz besondere Situation“, sagt der Lehrer. Sein Kollege Bernhard Giebfried aus Duisburg, Vizeleiter einer Hauptschule, sieht den Fehler im System: „Hauptschulen sind nur noch für jene da, die sich anderswo nicht einpassen können.“

Rosy Freyd, Leiterin der Stuttgarter Friedensschule, warnt vor einer Stigmatisierung des Schultyps Hauptschule. Dadurch würden vorhandene Probleme eher verschärft als bekämpft. Mit einem Anteil ausländischer Schüler von rund 80 Prozent gilt die Friedensschule in der dicht besiedelten Weststadt als Brennpunktschule. Als Erfolgsmodell hat sich hier wie an elf weiteren Stuttgarter Hauptschulen die Schulsozialarbeit erwiesen: Sozialpädagogen sind als feste Institution in den Schulen im Einsatz.

Die Stuttgarter Schulbürgermeisterin Susanne Eisenmann (CDU) bezeichnet den Berliner Fall als „Offenbarungseid“. Wenn der Unterricht unter Polizeischutz stattfinden müsse, hätten die Institution Schule und die verantwortliche Politik versagt. Insgesamt müssten die Hauptschulen wieder stärker öffentlich wahrgenommen werden.

In Berlin hat die Werner-Stephan-Oberschule mit ähnlichen Mitteln wie die Stuttgarter Friedensschule die Probleme mit der Gewalttätigkeit gelöst. Reiner Haag lehrt seit dreißig Jahren an dieser Hauptschule. Jedes Jahr geben hier alle Schüler ein von den Klassensprechern gemeinsam erarbeitetes „Schulversprechen“ ab, das unter anderem den Verzicht auf Waffen, Gewalt und Drogen enthält. 80 der 320 Schülerinnen und Schüler wurden zu Streitschlichtern ausgebildet: „Es geht darum, die Böcke zu Gärtnern zu machen“, sagt Reiner Haag. Die Nationalität der Schüler sei generell nicht wichtig: „Vor dreißig Jahren hatten wir hier genau die Probleme wie heute die Rütli-Schule – mit deutschen Schülern.“ In der Abschaffung der Hauptschule sieht er kein Heilmittel: „Da müsste man gleich deren Schüler mit abschaffen.“

Probleme gibt es auch in den Münchener Hauptschulen. „Das Unterrichten ist schwieriger geworden, aber mit erheblichem Aufwand ist ein effektiver Unterricht möglich“, sagt etwa Bernhard Detsch, Rektor im Münchner Südwesten. Seine Schule hat einen Ausländeranteil von 60 bis 70 Prozent. Den qualifizierten Hauptschulabschluss erreicht etwa die Hälfte seiner Schüler. Gisa Zastrau, Rektorin der Hauptschule an der Münchener Ridlerstraße, ist gegen den Wegfall der Hauptschule: „Da wären meine Schüler dann innerhalb einer großen Schule der Bodensatz – jetzt im Moment können wir ihnen eine Schutzzone vor der Elite bieten.“

Ähnlich argumentiert auch die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Ute Erdsiek-Rave. Die Bildungsministerin Schleswig-Holsteins will aus der Erkenntnis, dass sich an Hauptschulen „soziale Probleme konzentrieren“, nicht die Konsequenz ziehen, die Hauptschule abzuschaffen. Sie plädiert stattdessen für höhere Durchlässigkeit zwischen den Schularten. Gegen die Abschaffung der Hauptschule sprechen sich auch die deutschen Gymnasiallehrer aus: „Die Probleme werden dadurch nur verlagert“, meint Heinz-Peter Meidinger, der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes. Außerdem hätten nicht überall in der Bundesrepublik Hauptschulen einen schlechten Ruf: „Es gibt Regionen wie Baden-Württemberg oder Bayern, wo der Hauptschulabschluss etwas gilt“, sagte Meidinger.

Knallhart dagegen bleibt das Plädoyer der Lehrergewerkschaft GEW: Weg mit den Hauptschulen! „Das Einsortieren in verschiedene Schularten führt zu Ghettoisierung und verstärkt die soziale Selektion“, sagt der Berliner GEW-Landesvorsitzende Ulrich Thöne. Er sieht nur eine Lösung: die Einführung einer Einheitsschule.