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Archiv-Artikel

Kümmere dich um dein Herz

„Blaiberg und sweetheart 19“, das jüngste Projekt des Regiekollektivs Rimini Protokoll, hatte am Freitag am Zürcher Schiffbau seine Uraufführung. Clever und dramaturgisch überaus einleuchtend verbindet es das Thema der Herztransplantation mit dem der Partnervermittlung im Internet

VON RENÉ ZIPPERLEN

Besser kann dokumentarisches Theater über das menschliche Herz – im biologischen wie übertragenen Sinn – kaum beginnen: Auf einem Sitz in der ersten Reihe klebt der Zettel „Reserviert für Arzt“. Und schon laufen auf den vier Videoleinwänden über den Tribünen rund um das kulissenfreie Bühnenquadrat Aufnahmen aus der Herzchirurgie. Die Routine der Minuten zwischen Leben und Tod ist kühl.

„Blaiberg und sweetheart 19“, das jüngste Projekt des Regiekollektivs Rimini Protokoll in Kooperation mit dem Berliner HAU, wurde am Freitag im Zürcher Schiffbau uraufgeführt. Es interessiert sich für den chirurgischen, unkommentierten Blick auf existenzielle Herzprobleme. Blaiberg war ein weißer Südafrikaner. 1967 wird ihm das erste fremde Herz weltweit eingesetzt – das eines Schwarzen. Sweetheart 19 ist ein Nickname in einem Internet-Singleportal, in dem nach neuen Herzen gesucht wird. 500.000 solcher Nutzer gibt es allein in der Schweiz, täglich zählt der Marktführer 500 Neuanmeldungen. Spenderherzen gibt es etwa 30 pro Jahr. Gesucht werden zwanzigmal mehr.

Das Trio Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel recherchiert in beiden Sphären und findet Menschen, die mit einem neuen Herz leben, im Internet einen neuen Partner oder eine Welt ohne Schmerz, Tod und Begrenzung suchen. Auf die Bühne stellen sie keine Schauspieler, sondern die Experten für Herzensangelegenheiten und ihre Geschichten: Heidi, die Implantat-Trägerin; Renate, die Kardiotechnikerin; Jeanne, die Partnervermittlerin; Nick, den Speedflirting-Veranstalter; Crista, die Mutter, die ihren Sohn verliert und einen Organspendeausweis besitzt; Hansueli, der Spezialist für Schweinekrankheiten. Der Rest ist clevere und dramaturgisch einleuchtende Montage.

Wie wird so ein Herz ausgewählt, wie kommen beide zusammen, wie wird die Abstoßung vermieden? Die Grenzen zwischen der medizinisch-biologischen und der emotional-partnerschaftlichen Sphäre verschwimmen, wenn die Heart Angels aus dem Speedflirting („Sieben Minuten pro Partner“) die gleiche Rolle übernehmen wie das Entnahmeteam der Kardiologie: Herzen zusammenzubringen, neues Leben zu ermöglichen. Wenn’s doch nicht passt, wird bei der Partneragentur das Profil geändert („Männer ab 40“), die nächste Runde Speedflirting gestartet (statistisch braucht es 60 bis zu einer Beziehung). Und in der Medizin gibt es gegen die Abstoßung des Fremdherzens Medikamente (die freilich das Immunsystem lahm legen) oder transgene Schweine – nach einer Xenotransplantation ist es dem Herzen wurscht, ob es in einer Sau schlägt oder in dir.

Die „Theatralität des Alltags“ will das Trio von Rimini Protokoll aufzeigen und in das Theater holen, die fragmentierte Wirklichkeit zusammenführen. Und das gelingt. Etwa, wenn das Erhabene und das Banale in fast Dürrenmatt’schem Ausmaß aufeinander prallen: Während Heidi auf die OP vorbereitet wird, bruzzelt Jeanne ein frisches Herz am Bühnenrand. Und ist die Welt schon mal ins Theater geholt, fehlt auch dem Zuschauer der Raum, sich der Wirklichkeit zu entziehen. Das ist effektiv: Wie viel wäre man denn nun bereit, ganz auf die Schnelle, für einen neues Herz zu bezahlen? Die Spanne zwischen Mittelklassewagen und Einfamilienhaus als Maßstab für den Wert des eigenen Lebens. Und wie würde man entscheiden, wer ein Herz bekommen soll? Der Gesündeste, Jüngste, Kinderreichste?

Das ist ganz real und doch auf dem Theater. Um zu verstehen, was das dokumentarische Theater von Rimini Protokoll ausmacht, hilft die Frage: Was würde sich ändern, wenn Figuren und Dialoge erfunden und von Schauspielern gespielt wären? Eine ganz wesentliche Qualität: der gegenseitige Austausch von Inszenierung und Wirklichkeit, die Spannung zwischen sozialer und künstlerischer Konstruktion der Realität. Da bietet das Leben auf der Bühne auf einmal einen größeren Zugriff auf die Realität und ist doch nicht mit ihr zu verwechseln. Heidi, Jeanne, Nick, Renate: Sie sind sie selbst, doch hier spielen sie nur ihre Identität.

Am Ende hängt der Geruch gebratenen Herzens in der Luft, und das Publikum bekommt noch etwas mit auf den Nachhauseweg: den Country-Refrain „Don’t take your heartaches to heaven“ – Kümmere dich an Ort und Stelle um dein Herz.