Wir sind doch alle Exilafrikaner

Wer Herz und Leber untersucht, kann nicht sagen, woher ein Mensch stammt: Eine Tagung im Dresdner Hygienemuseum zum Thema Evolution offenbarte, wie sehr ideologische Modeströmungen die wissenschaftlichen Erkenntnisse beeinflussen

VON UTE SCHEUB

Was tun gegen Rassismus? Eine mögliche Strategie ist es, immer wieder darauf hinzuweisen, dass es keine menschlichen Rassen, sondern nur eine Rasse gibt – die des Menschen. Diese Erkenntnis haben wir den so genannten Evolutionsgenetikern von Luigi Cavalli-Sforza bis Svante Pääbo zu verdanken. Sie zogen aus weltweiten Vergleichen zwischen menschlichen Genproben den Schluss, dass vor ungefähr 100.000 Jahren etwa 10.000 Mitglieder des Homo sapiens aus Afrika nach Eurasien ausgewandert sein müssen. Von diesen paar People stammen wir hier alle ab. Und wenn man die wenigen genetischen Unterschiede zwischen heutigen Menschengruppen in Farben darstellt – sagen wir mal, Europäer in rot und Asiaten in blau –, dann sieht man, dass die Übergänge fließend lila sind.

„Marco Polo hat nie über menschliche Rassen geredet“, kommentierte Svante Pääbo denn auch im Dresdner Hygienemuseum bei einer Tagung im Rahmenprogramm der sehenswerter „Evolutions“-Ausstellung. „Vielleicht deshalb, weil er auf dem Landweg gereist ist.“

Überhaupt war dem jungenhaft sympathischen Gründungsdirektor des Leipziger Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie anzumerken, dass er von der wissenschaftlichen Sucht, alles klassifizieren zu wollen, nicht viel hält: „Die Natur lässt sich nicht so einfach in Schubladen stecken.“ Die Unterschiede zwischen den Menschen seien oberflächlicher Natur, nämlich eine rein äußerliche Anpassung der Haut- und Augenfarben an eine veränderte Umwelt. „Aber wenn wir Herz und Leber untersuchen, können wir nicht sagen, woher dieser Mensch stammt.“ Auch die Menschenaffen haben unter dem Fell eine helle Haut. Als unsere Vorfahren ihr Fell verloren, dunkelten sie nach, damit ihre Haut vor den UV-Strahlen der afrikanischen Sonne geschützt wurde. Nach einer jahrtausendelangen Wanderschaft von nur wenigen Kilometern pro Generation in Europa angekommen, wurden sie wieder hell. In unseren Breitengraden bietet UV-durchlässige Haut einen evolutionären Vorteil, weil unser Körper das Licht braucht, um körpereigenes Vitamin D zu produzieren. Andere Unterschiede zwischen den Menschen, zum Beispiel die asiatischen Augenlider, könne man bis heute nicht schlüssig erklären, meinte Pääbo. Vieles sei auch Produkt einer zufälligen sexuellen Selektion, weil bestimmte Frauen oder Männer als besonders schön empfunden wurden.

Vor hundert Jahren, in den Hochzeiten kolonialer Arroganz, war es für die Europäer allerdings noch völlig undenkbar, dass die Wiege der Menschheit in Afrika gestanden haben könnte. Der Paläanthropologe Friedemann Schrenk erinnerte mit Augenzwinkern an den „Piltdown Schädel“, einen Menschenschädel und Orang-Utan-Kiefer, die 1912 zusammen in einer britischen Kiesgrube „gefunden“ wurden. Juchhu, der erste Mensch – ein Brite! Zu dumm, dass der Fund sich als einer der größten wissenschaftlichen Schwindel aller Zeiten entpuppte. Noch schlimmer geschockt waren die Europäer, als 1924 in Südafrika der Schädel des so genannten Taung Child gefunden wurde, eines etwa vier Millionen Jahre alten Hominiden. Die Menschheit wurde gleich vierfach in Afrika gewiegt: Vor-, Früh-, Ur- und moderne Menschen, alle entstanden sie auf dem schwarzen Kontinent, und bis heute ist die humangenetische Vielfalt dort wesentlich größer als auf dem Rest der Welt.

Auch die Archäologin Ulrike Sommer wusste hübsche Beispiele zu berichten, wie unterschiedlich wissenschaftliche Erkenntnisse im Licht ideologischer Modeströmungen interpretiert werden. In völkisch-kriegerisch gestimmten Zeiten sahen die Ausgräber in der vorgeschichtlichen Welt überall „Völkerwanderungen“ und „Invasionswellen fremder Völker“ am Werke. Heute, im vergleichsweise friedlich gewordenen Europa, kann man sich auch vorstellen, dass es einfach nur von Individuen weitergetragene „Modeströmungen“ waren, die Phänomene wie einheitliche keramische Verzierungen bestimmten. Auch „die Kelten“ scheinen eine kulturelle Konstruktion des 19. Jahrhunderts zu sein.

Was also soll Identität anderes sein als etwas, das sich ständig ändert und ständig neu interpretiert wird?, fragte Ulrike Sommer. Wir alle sind Exilafrikaner, die ihr Fell verloren, die ihre helle Haut eingedunkelt und wieder aufgehellt haben.

„Evolution – Wege des Lebens“. Die Ausstellung ist noch bis 23. Juli im Deutschen Hygiene-Museum Dresden zu sehen. www.dhmd.de