theorie und technik
: Abdul Rahman: Wie ein afghanischer Verräter zum Himmelsgeschenk für den Vatikan wird

Für den „Glauben der Väter“ bedeuten Kirchenübertritte eine massive Bedrohung. Er wird ersetzt durch den „Glauben pur“

Der Fall Abdul Rahman hat gezeigt: Eine Konversion ist „obszöner“ als eine Geschlechtsumwandlung. Dies gilt nicht nur fürs ferne Afghanistan. In Europa protestierte zwar der Papst in ungewohnter Einhelligkeit mit der liberalen Öffentlichkeit gegen die Todesstrafe, mit der eine islamische Justiz den Übertritt zum Katholizismus ahnden wollte. Aber trotz dieser seltenen Allianz sollte man nicht vergessen, dass religiöse „Bekehrungen“ auch hierzulande ein heikles Thema sind. Über die katholische Kirche, ihr Eintreten für Religionsfreiheit und ihren Umgang mit Abtrünnigen braucht man kein Wort zu verlieren. Ihre Geschichte spricht für sich. Aber auch die liberale Öffentlichkeit reagiert in solchen Fällen durchaus empfindlich – man erinnere sich nur an Susanne Osthoff, deren Übertritt zum Islam sie gewissermaßen stigmatisiert hat (wenn das Wort in diesem Zusammenhang zulässig ist). Natürlich sind solche Reaktionen Welten von der afghanischen Todesstrafe entfernt, gemeinsam ist ihnen nur die Erkenntnis, dass Konversionen für jede Gemeinschaft eine Bedrohung darstellen. Am Fall Rahman wird in Reinform ersichtlich, warum.

Der religiösen Perspektive gilt der Konvertit im emphatischen Sinn als Verräter, weil er mit dem Glauben auch all das verlässt, was diesen Glauben „trägt“: Familie, Tradition, Kultur. Er trennt sich von seinem „organischen“ Umfeld. Denn Religiosität, innere, subjektive Überzeugung also, ist immer getragen von einer Objektivität, einem objektiven Glauben, der, in diversen Institutionen materialisiert, den intimen Glauben stützt – und damit dem Einzelnen garantiert, dass „er er ist“, wie es bei Louis Althusser heißt. Slavoj Žižeks liebstes (ergo immer wiederkehrendes) Beispiel für diese Äußerlichkeit des Glaubens ist die tibetische Gebetsmühle, bei der man sein Gebet auf ein Papier schreibt, das man zusammengerollt in eine ebensolche Mühle steckt, die man dann automatisch dreht: Man kann sich dabei, so Žižek, den schmutzigsten und obszönsten Fantasien hingeben – egal, denn „objektiv betet man“.

Tatsächlich verkürzt Žižek solcherart aber die Verhältnisse. Denn ich könnte mich hinsetzen und stundenlang die Mühle drehen ohne den geringsten spirituellen Effekt. Der Glaube funktioniert nur, wenn er in ein übergeordnetes Ganzes eingebettet ist. Die innerliche Hingabe an das Ritual ist nur dann überflüssig, wenn der Gläubige viel grundlegender von der Objektivität des Glaubens durchdrungen ist, wenn die religiöse Kultur also seine Identität konstituiert. Konvertieren bedeutet, einen gesamten soziosymbolischen Zusammenhang zu verlassen, der umfassender ist als jener, der die geschlechtliche Identität bestimmt. Deshalb ist dies der tiefer greifende Bruch.

Im Fall Rahman kam für die religiöse Perspektive noch ein zweites, erschwerendes Moment hinzu: Sein Bruch mit dem Islam insinuierte, es gäbe die Möglichkeit, seine Religion selbst zu wählen. Sich seinen Gott selbst auszusuchen – das setzt nicht nur ein eigenständiges Subjekt voraus, sondern auch eine Religion, die auf freier Entscheidung beruht. Für den „Glauben der Väter“ bedeutet das eine gefährliche Bedrohung: Er wird durch etwas ersetzt, das als „Glaube pur“, als Religion ohne tradierte Autorität, erscheint. Der Konvertit suggeriert, es gäbe eine Freiheit im Religiösen. In dieser einen Hinsicht hat die islamische Rechtsprechung ideologietheoretisch Recht: Es gibt keine Religion der Freiheit. So war es nur folgerichtig, dass man erwogen hat, Rahman für verrückt zu erklären.

Stellt der Konvertit also eine massive Bedrohung für den Islam dar, so ist er für die katholische Kirche ein „Geschenk des Himmels“. Was für eine Zufuhr an neuen religiösen Energien bedeutet jemand, der bereit ist, für seinen Glauben sein Leben zu riskieren, jemand, der den Tausch verweigert und nicht abschwört! Katholische Märtyrer sind ja nicht mehr so häufig.

Und verkörpert ein Konvertit wie Rahman nicht exemplarisch das Wort „Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein“ (Lukas 14, 26)? Wäre demnach die Konversion als Bruch mit den sozialen Hierarchien, mit der symbolischen Ordnung, nicht der „natürliche“ Zugang zum Christentum? Tatsächlich reaktiviert das jene universalistische Dimension des Christentums, die Theoretiker wie Alain Badiou und Slavoj Žižek neuerdings und zunehmend beschwören. Ob dies nun genau der Amtskirche entspricht oder nicht – in jedem Fall ist es kein Wunder, dass Rahman ausgerechnet in Rom Asyl gefunden hat. ISOLDE CHARIM