: Erschöpfte Selbste
MITTE DREISSIG Annika Reich spitzt die Frage, wie sich das Leben anfühlt, postfeministisch zu: „Durch den Wind“
VON CHRISTINE REGUS
Beim Yoga staunten alle, wohin sie ihre Beine schlingen konnte … Beim Yoga ging es ja auch nicht darum, zu wissen, was man wollte. Sie war Mitte dreißig.“ Jenseits vom Yoga geht es als Frau von Mitte dreißig aber schon darum, zu wissen, was man will. Lebensentscheidungen stehen an. Alison, die hier für ihre Beweglichkeit bewundert wird, kommt beruflich nicht vorwärts. Und das mit dem Kinderkriegen scheint sie auch verpasst zu haben. Ihr Freund und sie haben einfach vergessen, über Familie nachzudenken. Und nun ist Victor auf einer Dienstreise verschollen.
Alison ist eine von vier Hauptfiguren in Annika Reichs zweitem Roman „Durch den Wind“. Die anderen sind Alisons Freundinnen und könnten wohl auch mit der Autorin befreundet sein. Wie diese wohnen sie in Berlin-Mitte oder Prenzlauer Berg. Sie sind attraktiv, gebildet, finanziell komfortabel ausgestattet. Und so entfaltet das Buch ein Panaroma weiblicher Lebenskonstruktionen in einem Milieu, das gern als „Bionade-Biedermeier“ verspottet wird. Siri hat einen kleinen Sohn und einen gut aussehenden Mann, der viel verdient und ein fürsorglicher Vater ist. Siri hat zudem: Depressionen, Alkoholprobleme, null Sex. Architektin Yoko will keine Kinder. Sie hat meist gute Laune und wechselnde Liebhaber. Eventuell ist sie ein bisschen sexsüchtig. Jedoch kann sie sich nicht mehr auf ihren unsentimentalen Pragmatismus verlassen; neuerdings sehnt sie sich nach dem Mann von letzter Nacht und der fernen Heimat Japan. Friederike betreibt einen Laden, in dem es Torten und Second-Hand-Kleider gibt. Außerdem promoviert sie in Germanistik. Aber die meiste Zeit träumt sie von einem Baby und wartet auf Anrufe von Tom: Immer zieht er sich zurück, wenn die Nähe zu groß wird.
„Durch den Wind“ verflicht kunstvoll die Geschichten der vier Freundinnen. Jede macht eine Lebenskrise durch, angeschlagen von der Erkenntnis, mit Mitte dreißig noch keine Antwort auf die Frage nach dem richtigen Leben gefunden zu haben. Diese Frage ist in dem Roman keine ethische oder politische. Niemand interessiert sich bei Reich dafür, ob es gut ist, wie er lebt, sondern nur, ob es sich gut anfühlt. Darüber hinaus wird das Thema ganz postfeministisch zugespitzt auf Partnerwahl und Familiengründung. Und so geht einem beim Lesen gelegentlich die Frage durch den Kopf, ob diese Frauen wirklich nichts anderes beschäftigt als ihre reichlich konventionellen Beziehungen und die quälende Ungewissheit, ob sie gerade einer Lebenslüge aufsitzen oder nicht.
Aber diese Frage vergeht dann beim Lesen auch wieder. Denn Alison und ihre Freundinnen stehen den großen Frauenromanfiguren der Literaturgeschichte in wenig nach, zumindest nicht hinsichtlich ihrer widerstreitenden Gefühle in einem Gewirr aus Lebenshunger und Sicherheitsbedürfnis, Kinderwunsch und Autonomiestreben, romantischen Liebesträumen und realen Arrangements. Effi Briest, Madame Bovary oder Jane Austens Heldinnen würden sich zwar verwundert die Augen reiben. Leiden diese vier Berlinerinnen doch kaum noch unter äußeren Restriktionen, rücksichtslosen Männern, wirtschaftlichen Abhängigkeiten oder überkommenen Moralvorstellungen. Aber sie leiden trotzdem. Und zwar unter der Last, die Verantwortung für das eigene Glück selbst zu tragen. Alain Ehrenberg hat in „Das erschöpfte Selbst“ beschrieben, wie die Depression die Neurose als paradigmatische psychische Erkrankung abgelöst hat: Wurde der Mensch früher neurotisch, weil er das Ausmaß des Verzichts nicht ertragen konnte, das die Gesellschaft von ihm forderte, wird er heute depressiv, weil er die Illusion ertragen muss, ihm sei alles möglich.
Reichs Roman schildert den Moment im Leben der vier Frauen, in dem die Aufgabe, man selbst und zudem glücklich zu sein, zu schwer wird. Die Autorin erkundet das Feld, ohne oberflächlich zu psychologisieren. Sie tastet sich, und hier ist zu spüren, dass sie promovierte Ethnologin ist, phänomenologisch an ihre Figuren heran. Sie beschreibt nachvollziehbar, wie ihnen das Vertrauteste zum Fremdesten wird: Wenn man nicht mehr weiß, ob man das richtige Leben führt oder ob nicht alle Alltagsevidenz nur Trug und Einbildung ist, kann es passieren, dass man seinen Referenzrahmen verliert. Das Intimste, die Identität als Mutter, Geliebte, Tochter, die Grenzen des Ichs können sich auflösen.
Einen literarischen Kniff gibt es noch. Die Autorin mutet die Orientierungslosigkeit ihrer Figuren dem Leser selbst zu. Je weiter man im Buch vorankommt, desto weniger weiß man, welche Fäden man aufnehmen soll. Und so macht der Roman, der sich anfänglich manchmal in detailverliebten und etwas klischeehaften Milieubeschreibungen verliert, nach dem ersten Viertel eine unerwartete Wendung ins Unheimliche. Er packt einen damit ganz unverhofft. Die Sprache driftet ins Poetische und der Plot ins Thrillerhafte.
Man ist deshalb trotz einiger symbolschwangerer Stellen stets gespannt, wie es ausgeht. Bei allen vier Freundinnen eskalieren Konflikte. Lebenslügen werden offenbar. Und gegen Ende klären sich die Dinge. In keinem Fall jedoch wartet die perfekte Lösung.
■ Annika Reich: „Durch den Wind“. Hanser, München 2010, 336 Seiten, 19,90 Euro