Grasgrün ins Himmelblau

VORSICHT SEHNSUCHT Der neue Film des großen alten Formalisten Alain Resnais

Sie begehren ein Foto, eine Vorstellung vom grenzenlosen Glück

VON BIRGIT GLOMBITZA

Es muss alles mit diesem wuchtigen, steinernen (und selbstverständlich auch phallischen) Turm zu tun haben, auf den die Kamera im ersten Bild unvermittelt zurast, um im schwarzen Rechteck seines Eingangs zu verschwinden. Eine Fahrt, die an die in David Lynchs blaue Schachteln erinnert oder an die Sturzflüge in John Woos Schächte. Eine alles einsaugende Bewegung, nach der sich kaum sagen lässt, in welchen Zeitschleifen oder Realitäten es weitergehen wird.

Klar ist in „Vorsicht Sehnsucht“ von Alain Resnais, dem großen alten Formalisten, vorerst nur die Bewegungsrichtung. Von ganz unten nach sehr weit oben. Vom Grasgrün ins Himmelblau. Vom Asphalt, der von wild wucherndem Kraut durchbrochen wird – was den Originaltitel „Les herbes folles“ (zu Deutsch: wildes Gras) bildhaft ins Spiel bringt – wechselt der Ameisenblick der Kamera in die Stadt, auf die Bürgersteige der großen Boulevards.

Er lässt sich übertrampeln vom Heer der Männer- und Frauenbeine, bis er sich an einem Paar verfängt und eine Stimme aus dem Off ansetzt, das Vereinzelte, Alltägliche und Banale auf die Überhöhungen einer großen Liebesgeschichte vorzubereiten: „Sie hatte keine gewöhnlichen Füße. Wegen ihrer Füße ging sie dorthin, wo sie mit gewöhnlichen nicht hingegangen wäre …“

Und schon sind wir mitten in einer surrealen Screwball-Komödie, in der der Frau mit den ungewöhnlichen Füßen die Handtasche geraubt wird, Georges Palet (André Dussollier) ein Mann mittleren Alters, die weggeworfene Brieftasche neben seinem Auto findet und sich in das Foto der Ausgeraubten verliebt, die laut ihres Sportflieger-Ausweises den Namen Marguerite Muir (Sabine Azéma) trägt.

„Das Alltägliche führt gelegentlich zu … na ja, wozu? Wir werden sehen“, heißt es auf der Tonspur. Und mit jedem neuen Grün, das durch den Straßenbelag wuchert, verästelt sich die Geschichte in immer neue Andeutungen, der absurden Logik Schwerstverliebter folgend. Lange geplante Telefongespräche, die zart auf ein erstes Treffen hinwirken sollten, werden zu rüdem Vorpreschen, Tagesabläufe von albernen Übersprungshandlungen zersprengt.

Für Resnais hat das Leben schon immer die Kunst, vor allem das Kino imitiert. Keinesfalls umgekehrt. Und wenn das ganz alltägliche Leben dem Kino immer ähnlicher wird, interessiere ihn genau das mehr als jeder Dokumentarfilm, hat sich der 87-Jährige einmal geäußert. „Kommt man aus dem Kino, wundert einen nichts. Alles kann passieren“, raunt der Erzähler in „Vorsicht Sehnsucht“. Und Georges muss sich so auch nicht lange die Augen reiben, als er Marguerite, die partout nichts von ihm wissen wollte, am Ausgang des Kinos auf ihn warten sieht.

Das Tollkühne an Resnais-Filmen wie „Vorsicht Sehnsucht“, der nach dem Roman „L’Incident“ von Christian Gailly entstand, ist ihre bis heute avantgardistische Experimentierfreude. Das Spiel mit donnernder Sinnschwere und unbekümmerter Bedeutungsleere, mit pubertärer Sprunghaftigkeit und greiser Erlösungssehnsucht, mit liebevoller Nähe und penibler Distanz.

Resnais hält den Fingern genau auf die Scharniere, an denen unsere Welt ganz in die des Kinoillusionismus kippen möchte. Dabei will er nicht den Zauber des Kinos zerstören, seine Überhöhungen vom Heldentod oder einer alles überwältigenden Liebe zunichtemachen. Er will ihm und seiner inneren Mechanik einfach nur auf die Schliche kommen. Genau davon handeln seine Werke von „Hiroshima, mon amour“ (1959) über „Das Leben ist ein Chanson“ (1998) bis zu „Vorsicht Sehnsucht“.

Für Resnais hat das Leben schon immer die Kunst imitiert. Keinesfalls umgekehrt

Resnais gibt das Erzähler-Handwerk mit all seinen Taschenspielertricks selbst zur Besichtigung frei. Marguerite, Georges oder all die anderen Probanden haben keine Biografie, kein psychologisches Profil, keine Tiefe. Sie sollen phantomhaft und ungefähr bleiben, als könne man durch sie hindurchgehen. „Mein Vater war Apotheker“, erinnerte sich Resnais in einem Interview, „als ich klein war, hat er mir Quecksilber in einem Schächtelchen gegeben und ich versuchte, die Kügelchen zu erwischen. So ähnlich ist das mit diesen Figuren, die mir die ganze Zeit entwischen.“

Marguerite und Georges bleiben auch füreinander unerreichbar. Sie begehren ein Foto, eine Vorstellung vom grenzenlosen Glück. Hand in Hand schreiten die beiden durch leere Kulissen, stehen vor einem Kino oder gehen als Held in einer triumphalen Schlussblende auf. Sie sind die blanke Oberfläche, kleine silbrige Kügelchen eben, an denen sich unsere Vorstellungskraft in vielen bunten Reflexen bricht.

Mit ihnen kullern wir durch die Sehnsucht nach einem anderen Leben, nach einer Begegnung, die allem eine neue Richtung gäbe, nach etwas Ungeheuerlichem, das länger dauern könnte als dieser Film.

Das Kino von Alain Resnais ist eines der Räume und Erinnerungen. In jüngeren Großstadtfilmen wie „Herzen“ befinden sich seine Protagonisten bezeichnenderweise auf einer Wohnungssuche. In „Vorsicht Sehnsucht“ ist Georges’ Haus besetzt von den liebevollen Sanierungsarbeiten der Frau. Ihrer Romanze scheint am Ende kein anderer Weg zu bleiben, als gemeinsam mit Georges’ Frau auf dem Rücksitz in die Luft zu gehen. Steig- und Sturzflüge, bei denen sich nicht mehr sagen lässt, wer den Steuerknüppel in der Hand hält. Womit wir wieder beim Turm und bei männlichen Phantasmen wären, zu denen sich auch „Vorsicht Sehnsucht“ in schöner Selbstreflexion gesellt. Zumal Georges in seiner letzten Szene den Hosenstall sperrangelweit offenstehen hat.

„Vorsicht Sehnsucht“. Regie: Alain Resnais. Mit André Dussollier, Sabine Azéma u. a. Frankreich 2009, 103 Min.