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Archiv-Artikel

Haben wir das weltbeste Gesundheits-system?JA

SOZIALSTAAT Die Deutschen leisten sich ein solidarisches, aber teures System: Die Gesunden zahlen für die Kranken. Reformen sind ein Dauerthema

Birgitt Bender, 53, gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion

Ja – laut OECD haben wir auf jeden Fall eines der besten Gesundheitssysteme, aber auch der teuersten der Welt. Zu den besten gehören wir, weil der Zugang zu Leistungen allen offen steht. Mit einer schweren Erkrankung wie zum Beispiel Krebs stürzt man in Deutschland – anders als in den USA – nicht in die Armut. Gut schneiden wir ab, da die Behandlung schnell und im internationalen Vergleich nach geringen Wartezeiten erfolgt. Innovationen werden direkt eingeführt und kommen allen zugute. Vor allem in der Akutmedizin sind wir Spitzenklasse. Auf anderen Gebieten sind uns andere Länder voraus, zum Beispiel bei der Versorgung chronisch kranker Menschen oder bei der Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln. Im Ausland werden zum Beispiel die Kompetenzen der nichtärztlichen Gesundheitsberufe besser genutzt. Die Finanzierung der Krankenversicherung erfolgt für 90 Prozent der Bevölkerung solidarisch: Versicherte mit kleinen Einkommen zahlen geringe Beiträge und diejenigen mit größeren Einkommen finanzieren das mit höheren Beiträgen. Dass sich dieser Solidarität Privatversicherte (meist Gutverdienende, Junge und Gesunde) entziehen können, ist ungerecht. Deutschland leistet sich den überflüssigen Luxus des Nebeneinanders zweier sehr unterschiedlicher Versicherungssysteme. Wir brauchen daher eine Bürgerversicherung, in der alle Bürgerinnen und Bürger einen einkommensabhängigen Beitrag zahlen.

Doris Pfeiffer, 50, Vorsitzende des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenkassen

Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ist eine sozialpolitische Erfolgsgeschichte, um die uns viele Länder beneiden. Dieser Erfolg ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die GKV bis heute insbesondere auf zwei Grundprinzipien beruht, dem Solidar- und dem Sachleistungsprinzip. Das solidarische System sorgt dafür, dass sich die Beiträge an der finanziellen Leistungsfähigkeit der Versicherten orientieren, die Leistungen sich wiederum allein nach der medizinischen Notwendigkeit richten. Kurz gesagt, der soziale Ausgleich zwischen Jung und Alt, Singles und Familien, besser und gering Verdienenden sorgt in der Solidargemeinschaft dafür, dass jeder Versicherte Zugang zu einer medizinischen Versorgung auf hohem Niveau hat. Das Sachleistungsprinzip schützt dabei vor finanzieller Überforderung, weil die Versicherten nicht in Vorkasse gehen müssen. Kein Gesundheitssystem der Welt ist optimal. Auch in Deutschland gibt es selbstverständlich Verbesserungspotenzial, zum Beispiel beim Thema Wettbewerb zwischen den Krankenkassen. Grundsätzlich aber hat sich unser Gesundheitssystem gerade auch im Vergleich zu anderen Ländern bewährt. Und ich bin überzeugt: Nur als Solidargemeinschaft – wie auch immer sie konkret von der Politik ausgestaltet wird – kann die GKV auch in Zukunft bestehen.

Doris Dell’Antonio, 52, Heilpädagogin, ist seit einem Jahr in ärztlicher Behandlung

Ganz sicher haben wir eines der weltbesten aber auch eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt. Deshalb wäre mein Wunsch eine Kostentransparenz für den Patienten, um ihm eine Kostenverantwortung zu übertragen. Die gesundheitliche Versorgung bezieht sich auf Behandlung durch den niedergelassenen Arzt, Behandlung im Krankenhaus und Behandlung im Rahmen der Rehabilitation. Durch meine koronare Herzerkrankung musste ich in den letzten zwölf Monaten alle Bereiche in Anspruch nehmen. Diese Leistungen wurden von der Krankenversicherung „selbstverständlich“ bezahlt. Undenkbar, etwa die Kosten einer Bypassoperation aus eigener Tasche zu zahlen. Zum Glück ist die Beitragshöhe der gesetzlichen Krankenversicherung unabhängig von Alter, Geschlecht oder etwaigen gesundheitlichen Risiken. Ich wünsche vor allem den Klinikärzten eine angemessene Bezahlung und passende Bedingungen, damit das gute Gesundheitssystem auch weiterhin gute Ärzte vorweisen kann.

Nein

Karl Lauterbach, 47, Gesundheitsexperte der SPD-Bundestagsfraktion

Das deutsche Gesundheitssystem ist leider noch nicht das beste der Welt. Es wird zu wenig in Vorbeugung investiert, nur vier Prozent der Ausgaben. Folge sind überdurchschnittlich viele Schlaganfälle und Herzinfarkte. Dies betrifft besonders die Einkommensschwachen. Daher ist der Unterschied bei der Lebenserwartung zwischen Arm und Reich größer als etwa in den skandinavischen Ländern. Ein Problem ist die Zweiklassenmedizin, die Patienten ohne Privatversicherung oder Zusatzversicherung bei Spezialisten benachteiligt. Damit werden die Gesundheitsunterschiede zwischen Arm und Reich verstärkt. Positiv zu bewerten ist das eher hohe Leistungsniveau der Krankenhäuser, aber es fehlt an Hausärzten, die im Vergleich zu Fachärzten unterbezahlt sind.

Gaby Guzek, 43, Medizinjournalistin und Autorin des Buches „Patient in Deutschland“

Das kann gar nicht sein! Denn im Sozialgesetzbuch steht, wie die Behandlung eines Kassenpatienten aussehen darf: „Wirtschaftlich, ausreichend, notwendig und zweckmäßig.“ Sicherlich bekommen die Deutschen noch immer eine medizinische Versorgung, um die sie der größte Teil der Welt beneidet. Aber: Der Preis dafür ist viel zu hoch. Jedes Jahr arbeitet ein durchschnittlicher Arbeitnehmer zwei Monate nur für seine Krankenkasse, im Laufe seines Arbeitslebens ganze 7,5 Jahre. Es gibt mehr Krankenkassenangestellte als niedergelassene Ärzte. Der Bürokratiewasserkopf frisst das Geld, das für die Versorgung nötig wäre. Brutal und unfair ist die stille Rationierung auf dem Rücken der Patienten. Wer krank ist, bekommt mit Glück die notwendige Behandlung – eine drastische Verschlechterung ist absehbar. Als Sündenbock müssen die Ärzte herhalten. Die aber werden selbst in ein so enges bürokratisches Korsett eingezwängt, dass eine wirklich gute Behandlung kaum möglich ist. Von der „weltbesten“ ganz zu schweigen.

Gudrun Gille, 62, ist seit 1998 Präsidentin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe

Wir haben zwar ein Gesundheitssystem mit vielen Unterstützungsangeboten für die Bevölkerung. Auch ist der Solidargedanke im System und den Köpfen der Menschen verwurzelt. Großer Kostendruck zeigt allerdings erste Schattenseiten: Hinter den Kulissen baut sich eine Zweiklassenversorgung auf. Der internationale Vergleich für Pflegeberufe zeigt, dass Deutschland bezüglich der Nurse-Patient-Ratio am unteren Ende der Skala liegt. Personalabbau und Arbeitsverdichtung haben extrem zugenommen. Die Qualität pflegerischer Ausbildungen fällt im internationalen Vergleich ab. Die international anerkannte Pflegeversicherung geht noch immer von einem überholten Pflegebedürftigkeitsbegriff aus. So erhalten viele Pflegebedürftige nur unzureichende pflegerische Unterstützung. Sie tragen gemeinsam mit den Angehörigen große Lasten der Versorgung ohne Hilfe der Solidargemeinschaft.

Rudolf Henke, 55, erster Vorsitzender des Ärzteverbands Marburger Bund

Wir haben nicht das beste Gesundheitssystem, aber es gibt auch nichts Besseres. Unser Gesundheitswesen garantiert, dass jeder Patient, unabhängig von seinem Einkommen, Zugang zu den gesundheitlichen Leistungen hat, die er aus medizinischer Sicht braucht. Die Qualität der Leistungen ist anerkannt hoch und die Zufriedenheit der Patienten mit dem System ungebrochen groß. Aber: In einer Gesellschaft des langen Lebens brauchen wir mehr Mittel, um die flächendeckende Versorgung der Bevölkerung auf dem gewohnt hohen Niveau sicherzustellen. Notwendig ist ein breiter Diskurs in der gesamten Gesellschaft über die Frage, wie das Gesundheitswesen künftig finanziert werden soll und welchen Teil jeder selbst übernehmen kann.