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Archiv-Artikel

Warten auf Deutschland

PAUSE Derzeit steht der politische Betrieb in der Europäischen Union still – wegen der Wahl des Bundestags. Doch lange wird sich die deutsche Politik vor unangenehmen Themen nicht mehr drücken können

AUS BRÜSSEL ERIC BONSE

Es ist schon auffällig: Je näher der Wahltag in Berlin rückt, desto mehr heiße Eisen verschwinden von der Tagesordnung der Europäischen Union in Brüssel. Und umso so stärker wird das Gefühl, dass die gesamte EU nach der Pfeife Deutschlands tanzt. „Bitte nicht stören“, scheint die ungeschriebene Regel in Berlin zu heißen, die die EU-Politiker in Brüssel zunehmend nervt.

Mal beeilte sich die EU-Kommission, Deutschland schnell entgegenzukommen – wie bei den Solarpanelen, wo die angedrohten EU-Strafzölle gegen China rasch vom Tisch waren. Mal musste Kanzlerin Merkel persönlich nachhelfen, wie beim Klimaschutz. Per Telefon setzte sie sich in Brüssel massiv für die Interessen von BMW und Daimler ein – und verschob geplante neue Regeln auf den Sankt-Nimmerleins-Tag.

Eine Zeitlang nahmen dies die EU-Politiker in Brüssel, Paris oder Athen klaglos hin. Schließlich sind sie es gewohnt, bei Wahlen in einem wichtigen EU-Land Rücksicht nehmen zu müssen. Doch diesmal geht die Wahlpause selbst dem Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem zu weit. „Vielleicht sieht die Welt in anderthalb Wochen schon ganz anders aus“, sagte der Niederländer bei einem Finanzministertreffen im litauischen Vilnius, nachdem Berlin mal wieder Entscheidungen vertagt hatte.

Zunehmend genervt sind auch Iren, Portugiesen und Griechen. Denn sie warten auf neue Hilfszusagen aus Brüssel. „Griechenland steht vor Wahlen, aber die finden in Deutschland statt“, titelte Ta Nea. Das Blatt aus Athen spielte darauf an, dass die Entscheidung über ein neues Hilfspaket von der nächsten Regierung in Berlin abhängt. Immerhin sind sich die meisten deutschen Wähler und Politiker der griechischen Problematik bewusst. Denn mit einer unbedachten Wahlkampfäußerung hatte Finanzminister Wolfgang Schäuble das geplante dritte Hilfspaket zum Thema gemacht. Seither tobt die Debatte über Schuldenschnitt, niedrigere Zinsen und neue Kredite – in Athen wie in Berlin.

Viele andere, zum Teil noch wichtigere Themen hingegen stehen auf der Warteliste und werden im deutschen Wahlkampf ignoriert oder tabuisiert. Dabei geht es um nicht mehr und nicht weniger als um die Zukunft der EU im „deutschen Europa“, wie der Sozialwissenschaftler Ulrich Beck die neue, von Deutschland dominierte Lage beschreibt.

Vor allem in Sachen Eurokrise steht viel an. Dazu zählt eine umfassende Reform der Währungsunion – mit einem eigenen Eurobudget, einer Bankenunion und gemeinsamer Haftung. Auch die Direkthilfen für Pleitebanken aus dem Euro-Rettungsschirm werden wieder Thema. Dann sind da die Krisenländer. Neben Griechenland warten auch Portugal und Irland auf neue Hilfszusagen. Zudem dürfte bald auch Slowenien unter den Euro-Rettungsschirm schlüpfen: Die Bankenkrise überfordert das Land. Wahrscheinlich wird auch Zypern bald weitere Kredite anfordern, das Hilfspaket vom Frühjahr reicht nicht.

Auf der Brüsseler Warteliste stehen aber auch noch andere für Deutschland unangenehme Themen. So fordert die EU weiter einen Mindestlohn und mehr Klimaschutz für Neuwagen – auch wenn dies Merkel und die mit ihr verbundene Industrieloby nicht wahrhaben wollen. Zudem stehen Entscheidungen zu den EU-Beitrittskandidaten Türkei und Serbien an. Beide hatte Merkel auf den Herbst vertröstet, um ihre christlich-konservative Wählerschaft nicht zu verschrecken. Doch bald müssen sich auch CDU/CSU-Wähler der Realität stellen: Deutschland kann zwar missliebige EU-Themen wegschieben; aus der Welt sind sie deswegen noch lange nicht.

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