letzter mann : Chancentods Beförderung
Jürgen Klinsmann hat sich für Jens Lehmann entschieden, weil der keinen Zweifel an seiner Gefolgschaft aufkommen lässt
Ein überreifer Apfel ist von Jürgen Klinsmanns Baum der Erkenntnis gefallen. Was bleibt, ist ein fauliger Hautgout und wohl auch ein nachhaltig zermanschtes Gemüt bei Torsteher Oliver Kahn. Er muss sich nun mit der Situation anfreunden, vom Bundestrainer übervorteilt worden zu sein, manche werden auch sagen: an der Nase herumgeführt. Aus der 1 b ist per Eilverfügung eine 1 a geworden – und die alte Nummer eins ist erstklassig versetzt worden.
Was weiß die Öffentlichkeit nach dem Votum vom Freitag? Während der Fußball-Weltmeisterschaft wird für die deutsche Auswahl ein Weltklasse-Torwart zwischen den Pfosten stehen. Nun ja: Das hätte man auch vorher schon ahnen können. Kahn oder Jens Lehmann, Timo Hildebrand oder Robert Enke, Tim Wiese oder Frank Rost, Hans-Jörg Butt oder Simon Jentzsch: All diese deutschen Bundesliga-Ballfänger könnten sich mit dem Attribut „ausgezeichnet“ oder „sehr gut“ schmücken und in alle Welt als Chancentod erster Güte verschickt werden. Auf diesem Posten herrscht in deutschen Landen keine Not. Die Männer mit der Lizenz zum Handspiel hätten alle das Zeug zu großen Taten. Warum Klinsmann es dennoch so spannend gemacht hat, bleibt sein großes Geheimnis. Nun könnte es sein, dass das Binnenklima in der Nationalelf Schaden nimmt. Aber auch da hat Klinsmann Glück: Der einst schlagkräftige Bayern-Block ist zusammengeschmolzen auf zwei Spieler; Deisler ist verletzt, Ballack bald kein Bayer mehr.
Der letzte Mann von Arsenal London ist es nun nach Wochen des angestrengten Wartens geworden, Jens Lehmann, der seit geraumer Zeit in guter Form ist und seine Freundschaft mit Oliver Bierhoff zu nutzen wusste – für die wichtigste Beförderung seiner Karriere. Lehmann, das orakelte die Berliner Zeitung schon vor Monaten, werde es werden, weil er viel eher den Gesinnungstest in Klinsmanns exklusivem Kreis besteht; weil er als Herausforderer jenen Ehrgeiz und jene Strebsamkeit vorlebt, die sich der Bundestrainer in seiner aktiven Zeit immer abverlangen musste, um erfolgreich Fußball spielen zu können. Oliver Kahn war im Jahre 2002 auf dem Gipfel, jedenfalls kurz davor. Jens Lehmann will dort erst noch hin, obwohl er fast genauso alt ist wie der Keeper des FC Bayern München: 36. Der schwäbisch-polyglotte Klinsmann mag aufstiegshungrige Aspiranten. Der ehemalige Stürmer war selber auch immer einer; jetzt ist er der mächtigste Volontär der Republik: ein Trainerlehrling.
Drei urdeutsche Prinzipien hat Jürgen Klinsmann bei seiner Entscheidung für das Torwart-Duell und schließlich für Jens Lehmann missachtet: Er hat keinen Heller auf die mächtigen Lobbyarbeiter gegeben. Er hat sich gegen die Boulevard-Medien gestellt. Und er hat den Altvorderen, den Hegemon demontiert. Das ist mutig. Und stur. Jürgen Klinsmann ist zweifelsohne eine Persönlichkeit – die stärkste, die das Team bei der Weltmeisterschaft haben wird. Das könnte freilich zum Problem für die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes werden. Oliver Kahn wurde mit Getöse vom Sockel gestürzt. Michael Ballack wurde nach dem Ausscheiden aus der Champions League von allen Seiten attestiert, ein guter Spieler, aber kein Stratege zu sein. Jens Lehmann wird nur sein Spiel spielen – ein medial begleiteter Egotrip. Und der Rest? Mitläufer, brave Fußballarbeiter und Kicker in Ausbildung.
Es gibt Trainer, die starke Persönlichkeiten ins Team einbauen, weil sie auf deren Vital- und Motivationskräfte bauen. Klinsmann scheint so ein Coach nicht zu sein. Er gibt den jungen Profis eine Chance, weil sie ihm folgen. Jens Lehmann ist so gesehen ein Junggebliebener. MARKUS VÖLKER