Die schrundige Haut der patinierten Stadt

FOTOGRAFIE Krude Orte im Osten, halb Brache, halb Provisorium, hat Ulrich Wüst am liebsten fotografiert. Seine „Berlin Leporellos“ sind in der Collection Regard zu sehen

„Wie die Stadt zugerichtet wurde, ist nicht unbedingt ein Gewinn“, meint Wüst lapidar. Er war ursprünglich selbst Stadtplaner und arbeitete in den Siebzigern beim Ostberliner Magistrat

VON RONALD BERG

Berlin ist dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein. Wie oft ist dieses Zitat von Karl Scheffler aus dem Jahre 1910 schon bemüht worden? Den Beweis für diese nach wie vor gültige Behauptung liefert Ulrich Wüst. Er ist Fotograf. Und seine Bilder zeigen etwa das: Den Blick tief hinein in einen halbleeren Baublock, versehen mit rauen Brandmauern und provisorischen Baracken. Die stuckgeschmückten Fassaden zur Straße fehlen. Oder: die Aussicht auf sozialistische Magistralen, die ihre eigentliche Aufgabe nur einmal im Jahr, zum 1. Mai, erfüllten und sonst ziemlich leer blieben. So leer, dass man meint, Ulrich Wüst habe 1982 eine Geisterstadt fotografiert.

Das also soll Berlin sein? Man kann es kaum glauben, wie sehr sich die Stadt innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte verändert hat. Selbst dem Stadtkundigen fällt es schwer, sich auf Wüsts Bildern zu orientieren: Eine Mauerecke, eine große Brandwand und die Reste irgendeines Hinterhauses, die fensterlosen Wand- und Mauerflächen aber schon mit reichlich Reklame versehen. Das also war die Wilhelmstraße 1997. Solch krude Orte, halb Brache, halb Provisorium und noch „voll der Osten“ hat Ulrich Wüst am liebsten fotografiert.

Ein Auswahl seiner Bilder kann man jetzt in der Collection Regard in der Steinstraße 12 in Mitte sehen. Hauptstücke der Ausstellung sind drei Leporellos. Meterlange ziehharmonikaförmige Gebilde aus aneinander geklebten Fotos. Das umfangreichste Leporello trägt den Titel „Lesebuch Mitte“, ist circa 21 Meter lang und besteht aus 80 Schwarz-Weiß-Aufnahmen vom Berliner Bezirk Mitte in den Neunzigerjahren. Die üblichen Sehenswürdigkeiten sieht man bei Wüst nicht. Wüst sucht das „Nicht-Bezeichnete“, wie er selbst erklärt.

Ausgerüstet mit einer gerade noch transportablen Fotoausrüstung, einer 6x9-Kamera mit Weitwinkelobjektiv und Stativ, ist Wüst damals den ganzen Tag durch die Stadt flaniert. Sein Augenmerk galt den skulpturalen Qualitäten des noch weitgehend zerschundenen Stadt-Torsos, übersetzt in schwarz-weiß. Die Stadtmitte der Neunziger sah in großen Teilen noch so aus, als seien die Kriegsruinen und Bombentrümmer gerade erst beseitigt worden. In Wirklichkeit wartete sie schon auf den Epochenwandel, der unsichtbar mit Planwerken und Eigentumsklärungen bereits begonnen hatte.

Heute findet Wüst im Stadtbild kaum noch Motive, die ihn reizen würden. Die glatten Fassaden der Neubauten aus Granit oder Glas liefern nicht jene materialen Qualitäten, jene raue, schrundige Außenhaut einer patinierten Stadt, wonach das Foto so süchtig ist, weil es selbst keine erkennbare Oberfläche hat. „Wie die Stadt zugerichtet wurde, ist nicht unbedingt ein Gewinn“, meint Wüst lapidar. Wüst war ursprünglich selbst Stadtplaner und arbeitete in den Siebzigern beim Ostberliner Magistrat.

Aber nicht nur die Stadt, auch ihre Bewohner hat Wüst fotografiert. Die Ausstellung zeigt ein Leporello aus den Achtzigerjahren, als Wüst den Besuch in seiner Wohnung im Prenzlauer Berg fotografierte. Dorthin kamen Freunde, Bekannte oder Kollegen, wenn es etwas zu besprechen gab. Manche der Köpfe erkennt man wieder: Matthias Flügge, damals Kunstjournalist, oder Thomas Heise, den Dokumentarfilmer. Die Künstlertypen von damals sahen anders aus als die von heute. Manche der Physiognomien lassen unwillkürlich an Steckbriefe denken. Jedenfalls beweisen die Bilder, dass es eine Zeit gab, als man auch ohne Telefon leben konnte. Damals klingelte man einfach an der Türe, wenn man mit jemanden sprechen wollte.

Das dritte Leporello heißt „Stadtbilder“ und hat am stärksten Archivcharakter. Es besteht aus kleineren Reproduktionen und funktioniert wie ein Findbuch zu Wüsts Negativen. Gleichzeitig liefert es auf komprimierten Raum eine Übersicht über das Schaffen von Wüst aus den letzten drei Jahrzehnten.

Die Ansichten der maroden Häuser, der trostlosen Plattenbaugebirge und leeren Stadtplätze liefern eine Phänomenologie der (ost-)deutschen Lebenswirklichkeit. Zu DDR-Zeiten konnte man das als Klage über die Verhältnisse verstehen. Doch Wüst wollte die sachliche Wiedergabe der Verhältnisse. „Das war Anklage genug“, sagt Wüst. Und außerdem darf man nicht vergessen: Wüst ging es stets darum, schöne Fotos zu machen. Auch wenn es einen dabei manchmal zerreißt, ob des morbiden Charmes der Bildmotive.

Ulrich Wüst: „Index/ Berlin Leporellos“. Collection Regard, Steinstraße 12. Bis 15. Februar, Fr 14–18 Uhr und nach Vereinbarung. www.collectionregard.com