Parcours der Beliebigkeit

Werke so unterschiedlich wie Tag und Nacht und von weit über 100 Künstlern: Mit seiner 73. Biennale verabschiedet sich das Whitney Museum von seiner exklusiven Konzentration auf die US-Kunst

Auch Francesco Vezzolis Arbeit „Trailer for a Remake of Gore Vidal’s Caligula“ ist nun im Whitney zu sehen

von MATTHIAS REICHELT

„Day for Night“ erinnert zwar an die koffeinfreie Sorte einer Kaffeemarke, ist aber das Motto, mit dem die Kuratoren Chrissie Illes vom Whitney und Philipe Vergne vom Walker Art Center in Minneapolis die 73. Whitney-Biennale bedachten. „Day for Night“ ist auch der englische Titel des Truffaut-Films „Le Nuit americaine“ und steht als Terminus für die Technik, Nachtszenen bei Tag zu drehen. Der bipolare Ansatz der beiden Kuratoren, der auch das So-tun-als-ob umfasst, verdient den Begriff Konzept nicht.

Er ermöglicht es aber, Werke so unterschiedlich wie Tag und Nacht von weit über 100 Künstlern auf den zu kleinen Etagen des Whitney Museums zu versammeln. Da finden sich die gesellschaftskritischen Ansätze in der Tradition von Aufklärung und Gegeninformation, wie sie The Center for Land Use Interpretation, das Critical Art Ensemble, das Deep Dish Television Network zeigen genauso wie alle Spiel- und Stilarten der zeitgenössischen Kunst. Von dem nahezu monochromen Gemälde Mark Grotjahns zu den filigranen Aquarellbildern von Jennie Smith bis hin zu einem streng schwarzweißen Fotozyklus von Robert Gober und vielen Projektionen und Installationen ist alles dabei. Die opulente Projektion einer Rock-Show mit Marionetten von Tony Oursler, Dan Graham u. a. folgt direkt hinter Arbeiten afroamerikanischer Künstler wie Dawolu Jabari Anderson, Jamal Cyrus und Kenya Evans, die Rassismus und schwarzes Bewusstsein thematisieren.

Doch in diesem Parcours der großen Beliebigkeit lässt kaum ein Raum Bezüge zu den benachbarten Arbeiten erkennen. Solche Großausstellungen funktionieren also nur, solange man nicht versucht ist, einen roten Faden erkennen zu wollen. Für jeden Geschmack finden sich in diesen Warenhäusern der Geräusche, Bilder, Haltungen und Gefühle, künstlerische Positionen, die individuell berühren oder intellektuell ansprechen. Geschieht dies entsprechend oft, wird das Projekt als gelungen empfunden, auch wenn die Kritik das vielleicht anders sehen mag. Ist die Ausstellung „brillant oder ein Desaster“, fragte Andrea K. Scott im Magazin Time Out und gab gleich die einzig richtige Antwort: „weder noch“.

Klar, auch das Bush-Bashing wird in mehreren Arbeiten bedient (etwa von Richard Serra) und kommt in New York City immer gut an, zumal die letzte Biennale als unpolitisch galt. Aber letztlich zählen allein der Besucherstrom und die Stärke des Medienechos, egal ob positiv oder negativ. Über beide Parameter kann sich das Whitney Museum nicht beklagen. Massen von Besuchern schieben sich durch die vier Etagen und werden fündig. Auf eine Installation von Josephine Meckseper („The Complete History of Postcontemporary Art“, 2005), mit der sie die Zitate von politischen Protestbewegungen in der modernen Werbestrategie untersucht, folgt die sparsame Installation Gedi Sibonys, die nur mit Materialien der direkten Umgebung komponiert wurde und an die Arte Povera erinnert. Irgendeinen Zusammenhang oder noch so kleinen Bezug sucht man vergeblich.

Ganz selten ist den Kuratoren eine interessante Blickachse gelungen. Im vierten Stock wird man abrupt mit Urs Fischers brachialen Eingriffen in die Architektur – Gordon Matta-Clark lässt grüßen – konfrontiert. Die großen Löcher legen die Sicht frei auf das eindrucksvolle Revival des Fotorealismus in der Malerei durch den in den USA lebenden Italiener Rudolf Stingel.

Auch die Art-Brut-Bilder des schizophrenen Daniel Johnston sind in der Ausstellung anzutreffen. Seit vielen Jahren bannt er seine Comic verarbeitenden Visionen in Songs und Zeichnungen, die in subkulturellen Kreisen seit langem hoch geschätzt werden. Erfreulicherweise wurden in den Ausstellungskanon auch Werke der in Berlin lebenden US-Amerikanerin Dorothy Iannone aufgenommen. Ihre narrativen erotischen Arbeiten sind zum ersten Mal in den USA zu sehen. Erst letztes Jahr wurde ihr Werk in der Gagosian Gallery, einem Nebenschauplatz von Kunstwerken und Berlin Biennale, gewürdigt. Deren drei Kuratoren, Ali Subotnick, Massimiliano Gioni und Maurizio Cattelan, wiederum waren Begründer der Wrong Gallery, die für die Whitney Biennale unter dem Titel „Down by Law“ den politischsten Raum im obersten Stockwerk des Museums zusammenstellte. Gemäß der fundamentalistischen Perspektive Präsident Bushs sind die USA Vollstrecker des guten und „göttlichen“ Gesetzes im internationalen Maßstab. „Down by Law“ verlegt den Frontverlauf zurück in die USA und vereint Arbeiten internationaler Künstlerinnen und Künstler zur Geschichte der kriminellen und politischen Gewalt in den USA.

Synergieeffekt und Vernetzung sind bekannte Phänomene bei den internationalen Biennalen. Deshalb verwundert es auch nicht, dass Francesco Vezzolis Arbeit „Trailer for a Remake of Gore Vidal’s Caligula“ nach Venedig nun im Whitney zu sehen ist. In üppigen Farben werden die dekadenten Spiele aus Sex und Sadismus unter dem größenwahnsinnigen Caligula zelebriert und lassen an Abu Ghraib denken.

Mit dieser Biennale hat sich das Whitney Museum von einer exklusiven Konzentration auf die US-Kunst verabschiedet. Zu engmaschig ist das vorwiegend westliche Kunstsystem, als dass sich eine Auswahl allein nach nationaler Zugehörigkeit aufrechterhalten ließe. US-Künstler zieht es nach Berlin, während deutsche Künstler sich gerne für die internationalen Weihen in New York tummeln.