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Archiv-Artikel

Die Bagger im Nacken

ARCHÄOLOGIE Am Schlossplatz laufen die archäologischen Grabungen auf Hochtouren, doch die Zeit ist knapp. Was jetzt nicht ausgebuddelt wird, verschwindet für immer in der künftigen Baustelle fürs Humboldt-Forum

Fundstücke im Boden

■ Grüfte und Friedhöfe waren nicht die einzigen bemerkenswerten Fundstücke der bisherigen Ausgrabungen am Schlossplatz. Die Archäologen haben mit der Datierung eines Holzkellers auf 1183 den frühesten Beweis einer Besiedelung des heutigen Berlins, damaligen Cöllns, erbracht.

■ Die Bauteile des Schlosses, die aus dessen Keller geborgen wurden, sind wichtige 3-D-Modelle für die Wiedererbauer des Stadtschlosses, das unter dem Namen Humboldt-Forum firmiert. Die Bauarbeiten dafür sollen in zwei bis drei Jahren beginnen. (taz)

VON MARTIN SCHWARZBECK

Fast zärtlich fährt Marco Zabel mit einer Kelle über die Erde. Immer wieder, bis eine schwarze Linie im Boden ihn aufmerksam werden lässt. „Hier war die Sargwand“, sagt er. Rund um den 43-jährigen Archäologen ragen die Schädel und Knochen weiterer Begräbnisse aus dem Boden.

Der Schlossplatz, auf dem Zabel arbeitet, ist eingerahmt von Baggern und Haufen aus Erde und Pflastersteinen. In der Mitte gähnt ein Loch von einem Hektar Fläche. Mauern, Ebenen und verrostete Rohre laufen kreuz und quer hindurch. Kabelstränge liegen frei, Gullys ragen wie Türme aus den Resten historischer Bauten. Eine Mondlandschaft aus mindestens 826 Jahren Siedlungsgeschichte.

Mit Besen, Löffel oder Kelle

Am Rand des Kraters stehen weiße Zelte, in die Belüftungsschläuche führen. Darin knien die Archäologen und Grabungshelfer und legen mit Besen, Löffel oder Kelle im Hof eines ehemaligen Dominikanerklosters Skelette frei. In bis zu sechs Schichten wurden die Toten übereinandergestapelt. „Wir arbeiten uns da durch wie beim Mikado“, sagt Zabel. 570 Tote hat das Grabungsteam bisher aus dem Schlossplatz geholt, meist Fürsten, Adelige oder Geistliche, „und es werden sicher noch mehr“, vermutet Michael Malliaris, der Leiter der Grabung. Die Archäologen und Helfer wirken bei ihrer Arbeit wie in Meditation. Die bedächtige Ruhe wird nur hin und wieder von einem leisen Schaben unterbrochen.

Sechs Archäologen, drei Zeichner, eine Vermesserin, dreizehn Grabungshelfer und vier Bagger sind hier seit Mai 2008 beschäftigt. Malliaris schätzt die Kosten des Projekts auf eine „hohe sechsstellige Summe“, die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung macht dazu keine Angaben. Finanziert werden die Arbeiten von Bund und Land, denn in Berlin muss der Bauherr, der ein Denkmal zerstört, dessen Dokumentation bezahlen. „Solche Rettungsgrabungen sind unser täglich’ Brot“, seufzt Malliaris.

Rettungsgrabungen sind ein Spiel gegen die Zeit. Bis Ende Juni ist die auf dem Schlossplatz noch finanziert. 10.000 Quadratmeter Fläche wird das Team dann freigelegt haben, teils bis zum Grundwasser, in viereinhalb Metern Tiefe. „Das ist eine gewaltige Menge Erde“, sagt Grabungsleiter Malliaris mit finsterem Blick. Der Archäologe Zabel fügt hinzu: „Wir stehen so unter Druck, dass wir teilweise sogar schweres Gerät einsetzen müssen“ – und zeigt auf einen der Bagger. Handarbeit wäre nötig, um alle Knochen, Scherben, Münzen, Würfel, Ringe oder Kämme aus der Erde zu holen.

Aber warum der Aufwand? Grabungsleiter Malliaris will die Stücke miteinander in Verbindung bringen, um zeigen zu können, „wie Menschen früher Städte planten, Häuser bauten oder welches Verhältnis sie zum Staat hatten, da kann man viel von lernen.“ Archäologe Zabel fügt hinzu: „Die Vergangenheit macht uns doch aus! Nicht das neueste Handy, sondern wer unsere Großeltern waren.“

Seine Ahnen sind ihm bei den Grabungen nicht nur im Geiste recht nah. Bis vor 300 Jahren wurde auf dem Schlossplatz beerdigt, und „durch die Vermischung der Gene innerhalb der vielen Generationen dazwischen ist es ziemlich wahrscheinlich, dass da Vorfahren von jedem von uns liegen“, sagt Zabel. Um das Leben dieser Verwandten zu rekonstruieren, werden deren Überreste peinlich genau dokumentiert.

Über einem der potenziellen Ururgroßväter im Grabungsfeld steht Jan Müller-Edzards, peilt durch einen roten Gitterrahmen mittels Lot die Knochen an und überträgt das Ergebnis auf Millimeterpapier. „So geht am wenigsten Information verloren“, erklärt der technische Zeichner und freischaffende Künstler. Was auch immer auf dem Schlossplatz entsteht, seine Bilder bleiben erhalten.

Zur weiteren Untersuchung, aber auch aus Gründen der Pietät werden die freigelegten Knochen nach der Dokumentation geborgen. Jedes Skelett wird in Kopf, Brust, Becken, Arme und Beine zerteilt, in Zeitungspapier gewickelt und in einer Bananenkiste in einem Container gestapelt. „Sonst fangen die an zu schimmeln“, erklärt Zabel.

Die von Skelettteilen, Erde und historischem Krimskrams befreite Architektur würde Grabungsleiter Malliaris am liebsten wieder zuschütten. „Da sind 700 Jahre alte Mauern dabei, und wenn die freistehen, gehen sie kaputt“, sagt er

Sind die Knochen trocken, werden sie ins Magazin des Landesdenkmalamts gebracht und dort anthropologisch untersucht. Nach Abschluss der Arbeiten werden sie auf einem bisher nicht festgelegten Friedhof wieder bestattet. Die Prozedur hat immer noch mehr Würde als die Alternative: ausgebaggert werden. „Ich bin mir sicher, die hatten nicht vor, sich in einem Schuttberg von Touristen begutachten zu lassen“, sagt Zabel über die Toten.

Die von Skelettteilen, Erde und historischem Krimskrams befreite Architektur würde Grabungsleiter Malliaris am liebsten wieder zuschütten. „Da sind 700 Jahre alte Mauern dabei, und wenn die freistehen, gehen sie kaputt“, sagt er.

Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung will die historischen Gemäuer an einigen Stellen freigelegt erhalten, soweit sie die Bauarbeiten der Schlossrekonstruktion überleben, die in zwei bis drei Jahren beginnen sollen – ganz genau steht’s noch nicht fest. Sprecherin Petra Roland erklärt: „Das Kellergewölbe des Stadtschlosses soll zum begehbaren Denkmal werden, und die Bebauung über dem Dominikanerkloster wird Gegenstand eines Wettbewerbs, bei dem Voraussetzung ist, die Funde zu berücksichtigen.“ Doch noch ist nichts konkret, „die Archäologen sind ja noch bei der Bestandsaufnahme“, sagt sie.

Die ist noch lange nicht abgeschlossen. Im bisher noch nicht durchgrabenen Schlossplatz vermutet Archäologe Zabel noch eine Menge Überraschungen. Er sagt: „Wenn wir die jetzt nicht finden, dann ist es vielleicht vorbei für alle Zeiten.“ Mit der Wiedererrichtung des Stadtschlosses ist die Geschichte dann begraben – unter ihrer Rekonstruktion.

■ Archäologische Grabungen am Schlossplatz: Führungen jeden Freitag, 14 Uhr, Treffpunkt vor dem Staatsratsgebäude, Schloßplatz 1