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Archiv-Artikel

Proben mit Wasserblick

Ein altes Pumpwerk wird umgebaut in ein Haus für Künstler: Erster Besuch auf der Baustelle des „Radialsystems“, für das Jochen Sandig und Folkert Uhde Netzwerke und Konzept entwickeln

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Als die Tänzer in Sasha Waltz’ Inszenierung der Oper „Dido & Aeneas“ gleich zu Anfang in ein Becken voll Wasser sprangen, war das nicht nur ein für die Oper ungewohnt nasses und physisch präsentes Bild, sondern auch die Geburtsstunde einer fruchtbaren Kooperation. Denn für diese unterhaltsame und intelligente Interpretation von Purcells Oper, die Februar 2005 erst in Luxemburg, dann in Berlin herauskam, arbeiteten Jochen Sandig, der Produzent von Sasha Waltz & Guests, und Folkert Uhde, Musikmanager und Dramaturg der Akademie für alte Musik, erstmals zusammen. Beide sind nun äußerst rührig als Initiatoren eines neuen Kultur- und Veranstaltungshauses, das auf den Namen „Radialsystem“ hört. Zurzeit führen Sandig und Uhde, aufgeregt und euphorisch, einzelne Journalisten und viele der Künstler, mit denen sie demnächst größere Kooperationen planen, über die Baustelle, in der Nähe des Ostbahnhofs.

Umgebaut wird ein altes Pumpwerk an der Spree, das historische „Radialsystem V“, vor hundert Jahren für die Abwasserentsorgung errichtet. Es mag Zufall sein, aber die beiden neuen Riegel aus Glas, mit denen der Altbau zur Spree hin überbaut und an der kriegszerstörten Westseite ergänzt wird, erinnern in ihren Großformen wieder an das Wasserbecken von „Dido & Aeneas“. Tatsächlich haben sie mit dem Motiv des Wassers zu tun, insofern sie das Gesicht des Gebäudes zur Spree hin verlagern.

Ah, diese Aussicht auf das Wasser der Spree, sonst nicht besonders spektakulär, wird beim Rundgang mit den zukünftigen Nutzern gefeiert wie ein schönes Geschenk für die Künstler. Man hat diesen freien Blick von den drei Probenräumen und Studios aus, die über der großen, wasserseitigen Loggia von schmalen Säulen getragen werden; man hat ihn von der Künstleretage über dem Foyer, aus der Lounge und dem Cafè – und von den Terrassen aus sowieso. Und immer stellen sich Sandig und Uhde, die in ihren Leben als erfolgreiche Kunstproduzenten viele Tourneen begleitet und die fensterlosen Künstlerräume und muffigen Garderoben in vielen berühmten Theatern kennen gelernt haben, vor, wie sich Musiker, Tänzer, Schauspieler, Regisseure, Videokünstler, Ton- und Lichttechniker, Elektroniker, Choreografen an diesem Ort wohl fühlen werden. Unter diesem Aspekt in die Feinplanung des Architekten Gerhard Spangenberg miteinbezogen worden zu sein, beflügelt beide.

Sie erzählen, dass der Architekt Gerhard Spangenberg, von dem auch das taz-Verlagsgebäude stammt, der erste war, der ein Auge auf das lange leerstehende und kriegsbeschädigte Gebäude geworfen hatte. Er entwickelte ein Konzept, das die detailreich ausgestaltete historische Industriearchitektur mit minimalistischen neuen Baukörpern rahmt, und suchte dafür einen Investor. Ein Mitspracherecht an dem denkmalgeschützten Bau hatte der Friedrichshain-Kreuzberger Baustadtrat Frank Schulz, der eine kulturelle Nutzung forderte. So brachte Spangenberg den Investor, die Telamon Vermögensverwaltung OHG aus Bochum, und das Team von Sandig und Uhde zusammen. Die beiden Kulturmanager gründeten (mit einem dritten Gesellschafter) die Radialsystem V GmbH und bekamen einen Mietvertrag für zehn Jahre.

Für den 9. September ist die Eröffnung angekündigt, ungefähr ein Jahr nachdem Sasha Waltz mit ihrem Ensemble den Weg aus der Schaubühne in die Eigenständigkeit gegangen ist. Die Choreografin ist nicht an der GmbH beteiligt, aber Vorsitzende einer ebenfalls neu gegründeten „Radial Stiftung“.

Noch braucht man viel Fantasie, um in der ehemaligen Maschinenhalle und im Kesselhaus des Pumpwerks die zukünftigen Veranstaltungshallen von 600 und 400 qm zu sehen; allein die Höhe beeindruckt schon jetzt. Sandig und Uhde beschreiben eine flexible Ausgestaltung, in der Zuschauer und Künstler nicht an bestimmte Plätze gebunden sind. Mit Podesten und Tribünen können unter der schönen Jugendstildecke verschiedene Topografien geschaffen werden.

Hinter dem Mut der beiden, die Verantwortung für ein eigenes Haus zu übernehmen, stecken ihre Erfahrungen sowohl in der freien Szene als auch mit den großen Apparaten von Institutionen wie der Schaubühne, Opern- und Konzerthäusern. Sandig hat das Tacheles und die Sophiensäle mit gegründet und für die Produktionen von Sasha Waltz oft internationale Koproduzenten gefunden. Uhde kennt sich auf dem Markt der alten Musik und in den Betriebsformen von Orchestern aus. Beide haben eine gut begründete Vorstellung davon, wie sich das, was in den tradierten Häusern als Betriebskosten zu Buche schlägt, die von großen Etats nur Bruchstücke für die Produktion übrig lassen, schmaler halten lässt. Tatsächlich hoffen sie, mit ihrer GmbH die Betriebskosten über Gastronomie, Vermietung von Probenräumen und Fremdveranstaltungen erwirtschaften zu können. „Das ist die Hardware“, sagt Sandig, „die wir übernehmen.“ Die „Software“, die künstlerischen Projekte, muss weiter über Förderung und Koproduktionspartner finanziert werden.

Für Folkert Uhde, der Festivals wie die „zeitfenster biennale alte musik“ mit ins Leben gerufen hat, ist das Radialsystem auch ein Ort, die Milieus der Besucher neu zu mischen und ihre Grenzen zu überwinden: zum Beispiel von Konzerthaus- und Operngängern, Klang- und Videokunstbesuchern, Tanz- und Theaterszene. Er hat bisher festgestellt, dass sich fast jeder Ausbruch aus der gängigen Konzertpraxis ästhetisch gelohnt und oft den Zugang zu der emotionalen Stärke der alten Musik neu erschlossen hat. Der Markt und das Publikum der alten Musik schrumpfen aber – das Radialsystem soll ihm neue Kräfte zuführen.

Die Tragfähigkeit der neuen Geschäftsform ist schwer einzuschätzen. An was man sich aber halten kann, ist ihr bisheriges Gesellenstück, „Dido & Aeneas“, barocke Oper und modernes Tanzstück zugleich. Auch das wurde nur möglich, weil sie gleich drei Opernhäuser – die Staatsoper aus Berlin, das Grand Théâtre de la Ville de Luxembourg und die Oper aus Montpellier – als Koproduzenten gewinnen konnten. Wenn solche potenziellen Partner auch in Zukunft stark bleiben, kann das Radialsystem funktionieren.