Gegen die Demokratie

Ist Benedikt XVI. ein „deutscher“ Papst? An ihm ist wenig typisch „Deutsches“, aber vieles, was für liberale Demokratien gefährlich ist. Dennoch ist Ratzingers Denken für viele Intellektuelle reizvoll

VON PAOLO FLORES D’ARCAIS

Karol Wojtyła war noch gar nicht unter der Erde, da waren die Zeitungen schon voll von Voraussagen, Diskussionen, ja Wetten über den Namen des künftigen Papstes. Joseph Ratzinger hielt dabei von vornherein die Pole-Position, so dass seine Wahl schließlich alles andere als eine Überraschung war. Bonmots über ihn waren ohnehin längst in aller Munde. Da im Italienischen „pastore tedesco“ sowohl „deutscher Pfarrer“ als auch „deutscher Schäferhund“ heißen kann, drängte sich dieses Wortspiel gewissermaßen auf, aber es gab auch finstere Witze wie den: „Zweiter Weltkrieg im besetzten Polen. Ein polnischer Staatsbürger soll von deutschen Soldaten erschossen werden. Da hört man einen fürchterlichen Donner, der Himmel tut sich auf und begleitet von Blitzen droht eine mächtige Stimme: ‚Rührt diesen Mann nicht an, denn ich habe ihn erwählt und er wird eines Tages Papst sein.‘ Staunen und Panik unter den deutschen Soldaten. Der – natürlich – katholische Kommandant der Deutschen bekreuzigt sich, lässt die Erschießung unterbrechen, denkt einen Augenblick nach und sagt dann: ‚Einverstanden, aber nach ihm bin ich dran.‘“ Ebenso zahlreich waren die Bemerkungen über das „Deutsche“ an Benedikt XVI. und über seine Jugend im „Tausendjährigen Reich“.

In Wirklichkeit aber entspricht dieser Papst einem durch und durch traditionellen Bild seines Amtes und einer streng katholischen, das heißt universellen römischen Kirche. Damit setzt er das lange Pontifikat von Johannes Paul II. fort. Stil und Charisma der beiden Männer mögen sehr verschieden sein, aber die theologische „Linie“ des „pastore tedesco“ unterscheidet sich in nichts von der des „papa polacco“. Als Kardinal war Ratzinger in allen theologischen sowie in allen anderen entscheidenden Fragen der einflussreichste Ratgeber Wojtyłas, und er war der Verfasser, jedenfalls Mitverfasser der wichtigsten Enzykliken des Pontifikats von Johannes Paul II. An der schrittweisen, aber eindeutigen Restauration der Orthodoxie, die sich jeder Form einer offenen Interpretation des (liberalen) Zweiten Vatikanischen Konzils entgegenstellt, an der Ausschaltung der Theologie der Befreiung in Lateinamerika und aller „fortschrittlichen“ Tendenzen europäischer Bischöfe waren Wojtyła und Ratzinger gleichermaßen beteiligt.

Beide sehen in der Aufklärung die Wurzel für alle Übel der Moderne, insbesondere für die Tragödien des 20. Jahrhunderts und für die beiden Totalitarismen (Kommunismus und Faschismus). Auch mit der Grundüberzeugung, dass Abtreibung der Völkermord unserer Zeit sei, stimmt Ratzinger vollkommen überein. Der neue Papst führt ebenso wie sein Vorgänger einen regelrechten obskurantistischen Kreuzzug, um die Kirche wieder auf die ideologische Linie von Pius XII. zurückzuführen (auch Pius XII. wurde gelegentlich als „deutscher“ Papst charakterisiert, weil er lange Zeit apostolischer Nuntius in Berlin war, und ihn sein heftiger Antikommunismus zu einer nachgiebigen Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus verführte). Dieser neue Obskurantismus ist jedoch differenzierter und raffinierter, so dass es ihm gelingt, einen nicht unbedeutenden Teil der postmodernen, vor allem an Heidegger orientierten, phänomenologischen und hermeneutischen Denkrichtungen für sich zu nutzen (und auf die Seite des Katholizismus zu ziehen).

Wojtyła und Ratzinger haben ein Interesse daran, die Phänomenologie zu „nutzen“, denn offenbar ist sie der letzte philosophische Trumpf, mit der sie auf Kritik am „Wahrheitsgehalt“ der Religion reagieren können, da den Argumenten von Hume über Feuerbach bis zu Freud – um die wichtigsten Vertreter der Religionskritik zu nennen – nicht mehr anders begegnet werden konnte. Denn rationale Gegenargumente gibt es nicht. Wenn der Glaube es ernst meint (und selbst ernst genommen werden will), kann er nur zum credo quia absurdum des Urchristentums zurückkehren, zum Glauben als „Ärgernis des Kreuzes“. Als solches, als Skandal für das rationale Denken der Griechen, nahm Paulus, der eigentliche Begründer des Christentums, den Glauben stolz für sich in Anspruch.

Die antiaufklärerische, antiempirische Vorstellung von „Wahrheit“, die von den verschiedenen (wenn auch oft heftig kontrastierenden) philosophischen Richtungen der Hermeneutik und der Heidegger-Epigonie entwickelt wurde, eignet sich außerordentlich für eine theologische Restauration. Das wird deutlich an den beiden großen theologisch-philosophischen Enzykliken des Pontifikats von Karol Wojtyła, der Veritatis splendor und der Fides et ratio. Die philosophische Argumentation spielt dabei natürlich nur eine untergeordnete Rolle und wird auch nicht explizit gesucht. Für den Kern ihres Verständnisses von Wahrheit beruft sich die katholische Dogmatik nach wie vor auf Thomas von Aquin, und die Wahrheit der Hermeneutik wird nur für die pars destruens herangezogen, um gegen die Aufklärung und gegen die moderne empirisch-wissenschaftliche Rationalität zu Felde zu ziehen. Dennoch ist es der katholischen Kirche auf diese Weise überraschend gut gelungen, in der gegenwärtigen laizistischen Kultur Anklang zu finden. Selbst ein Jürgen Habermas zeigte sich in einer öffentlichen Diskussion mit Ratzinger nicht gänzlich unempfänglich gegenüber den Lockungen einer Religion als „Ressource für die Sinngebung“ in der Demokratie. Gerade ihre Ferne zur (bis hin zur Feindschaft gegenüber der) Demokratie verbindet jedoch wie ein schwarzer Faden Wojtyła und Ratzinger mit der vorkonziliären Kirche Pius’ XII. Auch Benedikt XVI. hat daran von seiner ersten Botschaft an (genauer: von der Predigt anlässlich des Todes von Johannes Paul II. an, die sein eigentliches „Wahlprogramm“ enthielt) keinen Zweifel gelassen und es im ersten Jahr seines Pontifikats unaufhörlich wiederholt: Der eigentliche Feind (der „große Satan“ würden die Fundamentalisten einer anderen großen monotheistischen Religion sagen) ist die „Diktatur des Relativismus“. Gemeint ist nichts anders als einerseits eine pluralistische Gesellschaft, in der kein Glaube das Recht hat, seine Moralvorstellungen Gesetz werden zu lassen (und damit die Sünde zum Verbrechen zu erklären), und andererseits die moderne repräsentative Demokratie (die durch ihre Verfassung die ethisch-politischen Rechte jeder Minderheit bis hin zu der entscheidenden Minderheit jedes einzelnen Dissidenten garantiert und sie somit vor dem Zugriff jedweder Mehrheit schützt).

Für Ratzinger wie für Wojtyła dagegen verliert auch das demokratischste Parlament seine Legitimität, wenn es Gesetze erlässt, die im Gegensatz zum „Naturgesetz“ stehen. Über die Inhalte des „Naturgesetzes“ aber entscheidet die Kirche und die Unfehlbarkeit ihres Papstes! Wenn es um Abtreibung und Stammzellen, um Homosexuellenehe und Euthanasie geht, dann verlangt Ratzinger daher, dass seine Moralvorstellungen Gesetz werden und der Bürger, der diese verletzt, nicht nur im Jenseits dafür büßen muss, sondern schon im Diesseits bestraft wird. In all dem ist wenig typisch „Deutsches“, aber sehr vieles, was für die liberale Demokratie jedes Landes universell gefährlich ist.

Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann

Fotohinweis: PAOLO FLORES D’ARCAIS, geboren 1944, ist Herausgeber der einflussreichsten politischen Zeitschrift Italiens Micro Mega, die in der Ära Berlusconi zum Sprachrohr der Opposition wurde. Er lebt in Rom. Bei Wagenbach erschien zuletzt ein Streitgespräch mit Joseph Ratzinger über die Frage Gibt es Gott?