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Archiv-Artikel

Dritte Welt verliert Privileg auf Unterentwicklung

Die kapitalistische Globalisierung führt zu einer wachsenden sozialen und ökonomischen Ungleichheit. Dabei verliert die aus der so genannten Dritten Welt bekannte Unterentwicklung ihren bisherigen territorialen Bezug. Auch in den traditionellen Industrieländern wird Marginalisierung zur Regel

von REINHART KOESSLER

Der oft mit Globalisierung bezeichnete Weltzusammenhang ist gekennzeichnet durch die extreme Verdichtung von Raum und Zeit: Prinzipiell ist es möglich, „in Echtzeit“ mitzuerleben, was bei den Antipoden geschieht – auch wenn die wenigsten dies zu ihrer Alltagsroutine gemacht haben. Dennoch sind wir weit von einer „einen Welt“ entfernt. Und die Welt ist auch nicht übersichtlicher geworden – im Gegenteil. Wo noch vor kurzer Zeit klare Verhältnisse zu herrschen schienen, verschwimmen zusehends eindeutige Grenzziehungen: Seit 1989/91 ist der übergreifende Bezugsrahmen der Blockkonfrontation abhanden gekommen, der bei allen Gefahren und Leiden für viele klare Orientierungen bot. Mehr noch: Die häufig transkontinentale Migration von Menschen und Kapital hat neue Dynamiken angestoßen.

Damit hat die herkömmliche Unterscheidung zwischen Entwicklung und Unterentwicklung ihren territorialen Bezug weitgehend verloren. In den wirtschaftlichen Zentren der Welt wurde die Präsenz von Marginalisierten mit legalem, oft aber illegalem Aufenthaltsstatus zur Regel. Sie stabilisiert die Verhältnisse durch Druck auf den Arbeitsmarkt und die Legitimation aller möglichen Kontrollen, die mit nicht dokumentierter Migration begründet werden. Diese Zentren selbst scheinen sich teilweise mit der Entstehung neuer Industrieregionen in Ost- und Südostasien zu verlagern.

Eine andere Seite des gegenwärtigen Weltzusammenhangs wird durch die „schwarzen Löcher“ der Globalisierung bezeichnet: Die Ausgestoßenen, Ausgegrenzten und Aufgegebenen der Inner Cities Nordamerikas oder der französischen Banlieues, ebenso diejenigen, die in den weiten Regionen Afrikas, aber auch Lateinamerikas und Südasiens leben, die weitestgehend vom Weltmarkt abgekoppelt sind, sind mit einer ähnlichen, gnadenlosen Realität konfrontiert: Wer für sein Überleben davon abhängig ist, in den kapitalistischen Verwertungszusammenhang einbezogen zu werden, ist letztlich schlechter daran, wenn es ihr oder ihm nicht gelingt, die Ausbeutung der eigenen Arbeitskraft zu realisieren.

Die trotz aller Marginalisierung höchst reale Einbeziehung in den kapitalistischen Weltzusammenhang äußert sich in einem expandierenden informellen Sektor mit fließenden Übergängen zu einer weltweit operierenden Kriminalität. Hierin drückt sich nicht zuletzt die über in den letzten zwei Jahrzehnten gestiegene soziale und ökonomische Ungleichheit in der enger zusammengezogenen Welt aus.

Auch Gegenbewegungen gegen die kasinokapitalistische Globalisierung sind heute gezwungen, deren Spiel in erheblichem Maß mitzuspielen. Wo Gegenbewegungen an der Basis agieren, sind sie mit der Kluft konfrontiert, die zwischen den Auswirkungen weitgehend anonymer Prozesse etwa auf den globalen Finanzmärkten und ihren eigenen Handlungsmöglichkeiten bestehen, die lokal rückgebunden sind. Etwa auf Welt-Sozialforen können sie zwar sich und anderen demonstrieren, wie viele und wie bunt sie sind. Das sollte ebenso wenig unterschätzt werden wie die Möglichkeiten globaler Kommunikation auch für Oppositionelle. All dies kann aber nicht über die Kluft hinwegtäuschen, die zwischen solchen Handlungsmöglichkeiten einerseits und globalen Machtkonzentrationen andererseits besteht. Selbst die Nutzung globaler Kommunikationstechniken reproduziert unwillkürlich die Digital Divide in einer Welt, in der über die Hälfte der Menschen noch kein Telefonat geführt hat – und doch die Konsequenzen aus den in Echtzeit fallenden Entscheidungen mitzutragen hat.

Damit ist keineswegs der Abstinenz sozialer Bewegungen gegenüber dem Internet das Wort geredet. Nur sollte klar sein, dass die Chancen dichter Kommunikation nicht schon gleichbedeutend sind mit Globalisierung. Die buchstabiert sich viel eher als aktuelle Form eines weltumspannend operierenden Kapitalismus. Andererseits kann die globale Vernetzung sozialer Bewegungen zwar Gegenmacht repräsentieren. Doch auch sie schafft und reproduziert Machtverhältnisse. Das ist kaum zu vermeiden und daher kein Anlass zu Klagen. Die bittere Erfahrung des 20. Jahrhunderts mit eben solchen Prozessen der Machtkonzentration sollte jedoch zur Wachsamkeit mahnen – auch gegenüber regierungsseitigen Gegeninitiativen in Lateinamerika gegen die dominante Globalisierung.

Fotohinweis: REINHART KOESSLER, Jahrgang 1949, ist Soziologe und Historiker. 2002 erschien seine Streitschrift „Globale Solidarität?“ im Apsel Verlag.