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Archiv-Artikel

Talar, Katheder und Hegels Schreibtisch

JUBILÄUM 200 Jahre Humboldt-Uni: Eine Ausstellung erzählt, wie vielfältig die erste Berliner Hochschule mit den sie umgebenden politischen, kulturellen und ökonomischen Umwelten vernetzt war – und auch immer noch ist

Leistungsdruck, Prüfungsstress und Konkurrenz behindern nicht selten eine distanzierte Reflexion

VON SIMONE JUNG

Der Krieg war verloren und Berlin mehr Kleinstadt als Weltstadt, finanziell am Ende und weit davon entfernt, große Geister anzuziehen. „Der Staat muss durch geistige Kräfte ersetzen, was er an physischen verloren hat“, forderte deshalb König Friedrich Wilhelm III. Am 6. Oktober 1810 schrieben sich die ersten Studenten an der Berliner Universität ein.

Das Ziel wurde erreicht: Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt hat die erste Universität Berlins mit einer Kombination aus Forschung und Lehre als Reformuniversität weltberühmt gemacht. Persönlichkeiten wie Heinrich Heine, Adelbert von Chamisso, Karl Marx oder Kurt Tucholsky studierten hier, 29 Nobelpreisträger waren mit der Humboldt-Universität wissenschaftlich verbunden. Humboldt hatte in den Schriften von Immanuel Kant und Friedrich Schleiermacher Ideen für eine moderne Universität gefunden. So war die Humboldt-Universität nie als reine Ausbildungsstätte gedacht, sondern als ein Ort, an dem Lehrende und Lernende fern von Staat und Fremdbestimmung eine Gemeinschaft bildeten, in der sie in Freiheit diskutieren und neben dem Erwerb von universeller Bildung auch ihren individuellen Charakter ausformen konnten. Bildung statt Ausbildung war das Motto. Dabei war die Berliner Universität nie ein Elfenbeinturm: Erst die Verbindung mit der Stadt und die fortwährende Nähe zur politischen Macht schaffte den Nährboden, auf dem sich die geistige Entwicklung entfalten konnte.

Geistige Beweglichkeit

Hier setzt das Konzept der Ausstellung „Mittendrin. Eine Universität macht Geschichte“ an. „Mittendrin“ heißt konkret: im Grimm-Zentrum, der neuen Zentralbibliothek der HU, direkt am Bahnhof Friedrichstraße. Anhand von Werk und Werdegang von Professoren und StudentInnen zeigen hier die Kuratorinnen Ika Thom und Kirsten Weining, wie vielfältig die erste Berliner Hochschule mit den sie umgebenden politischen, kulturellen und ökonomischen Umwelten vernetzt war und ist.

Gleich im Foyer der Bibliothek begegnet man einem interessanten Gefüge. Auf 400 Quadratmeter verteilen sich kreuz und quer mehr als 30 rot lackierte Würfel, die in Text, Bild und Ton die Geschichte der Universität erzählen. 200 Jahre zersplittern hier in einzelne Geschichtskörper. Spielerisch, fast lebendig erinnern sie symbolisch an die geistige Beweglichkeit der Universität. Die kleinsten Kuben dienen dabei als Sitzplätze, andere als Aufsichtstische oder Vitrinen. Die größten sind begehbar und funktionieren damit als „Raum im Raum“.

Mit dieser Ausstellungsarchitektur fügten die Szenografen Tom Duncan und Noel McCauley das Konzept der beiden Kuratorinnen souverän in die vorgegebene Raumstruktur der Bibliothek ein. Das war nicht einfach, denn die täglich von über tausend Besuchern frequentierte Bibliothek, die von drei Eingängen her zugänglich ist, ließ ein chronologisches Erzählen ebenso wenig zu wie eine klassische, in sich geschlossene Ausstellung. Mit jeweils thematisch abgeschlossenen Kuben, die sich dezentral in den täglichen Besucherfluss durch das Gebäude einfügen, wurde das Problem klug gelöst: Die einzelnen Themeninseln sind unabhängig voneinander verständlich. Einen Rundgang gibt es nicht, jeder kann sich beim Gang durch die Ausstellung von seinen Interessen leiten lassen.

Humboldt’scher Geist

Durch die Vielzahl von historischen Exponaten in und um die Kuben, wie Amtskette und Talar, Katheder oder Hegels Schreibtisch, gewinnt die Ausstellung an Plastizität. Mediengestützte Gucklöcher sorgen für den spielerischen Moment, hier kann der Besucher als Lauscher vor der Tür ganzen Vorlesungen zuhören oder mikroskopische Präparate des Zoologen Christian Gottfried Ehrenberg erspähen. Denkschriften Fichtes und Schleiermachers stehen zum Lesen bereit.

Jubiläen verbinden auch immer Herkunft mit Zukunft, Ausstellungen regen zum Denken an. In einer Zeit von Bologna, in der die Studenten nach der Bachelorreform einen strikten Stundenplan haben, unter ständigem Prüfungsdruck stehen und primär auf das Berufsleben vorbereitet werden, gewinnt der Humboldt’sche Geist wieder an Aktualität. Denn Leistungsdruck und Konkurrenz behindern nicht selten eine distanzierte Reflexion.

Gibt die Reform dem Studium auch festere Strukturen und ist ein Bildungskonzept im Humboldt’schen Sinn in Zeiten überfüllter Unis nicht mehr zeitgemäß, so fehlt der Universität von heute doch häufig eins: der Freigeist.

■ „Mittendrin. Eine Universität macht Geschichte“. Bis 15. August im Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum, Eintritt frei