: Couragiert im grauen Mittelmaß
Hannover 96 bietet seinen Fans zum ersten Mal seit Wochen große Fußballunterhaltung. Zu einem Sieg gegen den VfB Stuttgart reicht es nur wegen des Platzverweises gegen Kapitän Lala nicht
Von Christian Goertzen
Zwischen all diesen typischen Handgriffen nach einem Spiel, dem Öffnen der Schnürsenkel, dem Entfernen der Grasfetzen, die sich zwischen den Stollen der Fußballschuhe angesammelt haben, dem Herunterziehen der Stutzen und der Entnahme der Schienbeinschoner präsentierte Per Mertesacker bemerkenswert beiläufig die Erkenntnis des Abends: „Die Zuschauer haben heute gemerkt, dass wir noch leben. In den vergangenen Wochen hat man schon den Eindruck haben können, dass der letzte Wille bei uns gefehlt hat“, sagte der Nationalspieler.
Das 3:3 (2:0) im Heimspiel gegen den VfB Stuttgart hat Hannover 96 zwar wieder nicht die erhofften drei Punkte auf einen Schlag gebracht, doch die Mannschaft von 96-Coach Peter Neururer hat vor 36.298 Zuschauern auf eine andere Art gewonnen: Mit einem couragierten Auftritt ist es den ins Tabellen-Niemandsland verstoßenen Niedersachsen gelungen, bei ihren Anhängern viel von dem zuletzt verspielten Kredit zurückzugewinnen.
Sie hatten sich selbst in den vergangenen Wochen um den Lohn einer guten Saison gebracht und die anspruchsvoll gewordenen Fans dadurch auf die Barrikaden getrieben. Die Ausbeute von gerade einmal fünf Punkten aus den vergangenen fünf Partien hat dafür gesorgt, dass das hinter vorgehaltener Hand ausgegebene Ziel „Uefa-Cup“ schnell außer Reichweite war. Schlimmer noch: Die „Roten“ fanden sich genau dort wieder, wo sie sich schon vor dem Amtsantritt von Peter Neururer aufgehalten hatten: im grauen Mittelmaß. Einmal an der großen Fußballwelt schnuppern, kurz die Aussicht auf Spiele gegen Deportivo La Coruña, Lazio Rom oder Tottenham Hotspurs genießen, und dann zurück in die Tristesse, in den Dunstkreis der „grauen Mäuse“ Arminia Bielefeld und VfL Wolfsburg – so ließe sich eine Saison beschreiben, die nicht nur der enorm ehrgeizige Peter Neururer als unbefriedigend bewerten wird.
„Mit dieser Mannschaft ist ein Uefa-Cup-Platz nicht erreichbar“, hatte Trainer Neururer bereits vor dem Spiel gegen den VfB Stuttgart gesagt. „Ich habe alles gemacht, was man sich vorstellen kann. Es gab Rückendeckung, Zusatzschichten. Man muss aber feststellen, dass die Qualität nicht reicht“, sagte er.
Doch Neururer wäre nicht Neururer, hätte er nicht noch einen Trumpf im Ärmel gehabt. Und so bezog er mit seiner Mannschaft vor dem Spiel gegen den VfB Stuttgart ein Trainingslager in Barsinghausen. Das Ergebnis dieser Maßnahme konnte sich sehen lassen. Nach etlichen blutleeren Auftritten spielten die Niedersachsen gegen den Uefa-Cup-Anwärter Stuttgart Erlebnisfußball. Sechs zum Teil wunderschöne Tore, viele Strafraumszenen, herrliche Spielzüge und Spannung bis zum Schlusspfiff bekamen die Zuschauer in der AWD-Arena geboten. Auf so manchen 96-Fan muss das wie ein Kulturschock gewirkt haben.
Dass die Gastgeber trotz einer 2:0-Führung durch Michael Tarnat (2.) und den überragenden Jiri Stajner (33.) sowie dem Treffer zum zwischenzeitlichen 3:1 durch Per Mertesacker (66.) nicht das Spiel gewannen, lag zu einem großen Teil daran, dass sie 52 Minuten lang in Unterzahl spielen mussten. Wegen wiederholten Foulspiels hatte Hannovers Kapitän Altin Lala in der 38. Minute die gelb-rote Karte gesehen. Stuttgart kam dank der Treffer von Danijel Luboja (52.), Thomas Hitzlsperger (77.) und Jon Dal Thomasson (83.) zum verdienten Ausgleich. „Meine Gefühlslage ist ein wenig gespalten“, sagte Neururer hinterher. „Einerseits ziehe ich den Hut vor der Leistung meiner Mannschaft, wir haben ein überragend gutes Fußballspiel gesehen. Andererseits bin ich natürlich traurig darüber, dass wir trotz zweimaliger Führung die drei Punkte nicht geholt haben.“