: Die Augenhöhe suchen
„Deutschland kommt an der multikulturellen Gesellschaft überhaupt nicht vorbei“, findet Bernd Scherer, der seit Anfang des Jahres als Intendant dem Haus der Kulturen der Welt in Berlin vorsteht
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Als Bernd Scherer zum 1. Januar dieses Jahres Intendant am Haus der Kulturen der Welt (HdKW) in Berlin wurde, übernahm er ein Programm, dessen nächster Schwerpunkt „China – zwischen Vergangenheit und Zukunft“ schon lange geplant war. Er selbst war aber dort noch nicht gewesen. Also reiste er kurz vor der Eröffnung im März für zwei Wochen dorthin, um eine bessere Einschätzung der Bedeutung der eingeladenen Projekte vor Ort zu gewinnen und mögliche Projekte und Partner für die Zukunft zu sondieren.
Ein Intendant am Haus der Kulturen der Welt muss nicht Experte für all die Kulturen sein, die hier vorgestellt werden. Er muss vielmehr ein Experte für die Begegnung mit dem Unbekannten sein und wissen, warum und wie man etwas vermitteln will. Der Dialog der Kulturen ist kein Spiel mit festgeschriebenen Rollen, und über seine Veränderung hat Bernd Scherer, der von 1994 bis 1999 schon einmal am HdKW den Bereich Wissenschaft und Kultur geleitet hat, mehrmals geschrieben. Seit der Gründung des HdKW 1988 haben sich die Blickrichtung und die Ziele verändert. „Die Entwicklung der Welt“, so sieht das Bernd Scherer heute, „läuft auf das Haus zu. Was ehemals Peripherie war, rückt ins Zentrum, und wir sollten alles daran setzen, zu verstehen, was da passiert und welche Rolle wir in dem Prozess einnehmen. Die Themen, für die das Haus steht, sind nicht Spezialgebiete irgendwelcher Akademiker oder für besonders an Afrika und Lateinamerika Interessierte, sondern sie sind zentrale Bestandteile unserer gesellschaftlichen Debatten in Europa und in Deutschland. Das deutlich zu machen, ist die großer Herausforderung für das Haus.“
Seine ersten schlaflosen Nächte im neuen Amt hatte er, als der Karikaturenstreit losging. Das Budget für die Zeit war schon vergeben, und die große öffentliche Aufregung fand ohne das Haus statt. Jetzt plant er für Mai eine Konferenz zu dem Thema, die dann aber auch über das hinausgehen sollte, wie der Streit in den Medien bisher verhandelt wurde. Das wird das erste Experiment in der Suche nach neuen Formaten, die dem Haus kürzere Reaktionszeiten in aktuellen Debatten ermöglichen.
Den Programmen im HdKW konnte unter Scherers Vorgänger Hans-Georg Knopp angelastet werden, zu sehr auf die Karte der Hochkultur zu setzen. Die eingeladenen Künstler gehörten zwar oft einer internationalen Avantgarde an, die aber nur eingeschränkt ein Bild der populären Kulturen und Milieus einzelner Länder vermitteln. Auch Scherer sieht, dass der Maßstab internationaler Avantgarde eine Verengung bedeuten kann. Er setzt auf eine Zusammenarbeit mit Experten aus den jeweiligen Ländern und hofft, in Zukunft Künstler präsentieren zu können, „die in ihrem Kontext stark sind, obwohl ihre Sprache sich noch nicht universell durchgesetzt hat“. Wichtig für ihn ist, dass die neuen Positionen erlauben, unseren eigenen Kunstbegriff zu thematisieren und zu befragen.
Fünf Jahre lang, von 1999 bis 2004, hat Bernd Scherer das Goethe-Institut in Mexiko-Stadt geleitet. Was er von dieser Zeit erzählt, klingt nicht nach einem einseitigen Export deutscher Kultur, sondern belegt, wie er aus dem Vergleich und den Unterschieden zwischen den Voraussetzungen von Kultur neue Ideen und neue Fragen zu gewinnen sucht. Er nahm zum Beispiel die Love Parade von Berlin als Modell, um kulturpolitische Debatten in der Stadt anzustoßen: „Wir haben damit 2000 begonnen, da war die Love Parade hier schon auf dem absteigenden Ast. In Mexiko stellten wir fest, dass es eine interessante Szene elektronischer Musik gab, die sich ähnlich wie in Berlin Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre in Clubs abspielte. Aber kaum einer wusste so richtig, zumindest im Kulturestablishment, wie das organisiert war. Dadurch entstand die Idee, der Musikszene eine öffentliche Plattform zu schaffen, die sie sichtbarer in der Stadt werden lässt, und dafür war die Love Parade ein Modell. Das wurde eine Auseinandersetzung zwischen einer jungen Generation und einer Generation, die sich noch immer über die Revolution in Mexiko definierte und das Kulturverständnis eingefroren hat. Dazwischen eine Reibung zu erzeugen, das war das Interessante an dem Projekt.“
2003 zog er mit einer weiteren Geschichte in den Stadtraum von Mexico-Stadt. Für „Agua/Wasser“ initiierte er eine Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit, mit der auch die Verdrängung des Wassers aus der ehemaligen Lagunenstadt begonnen hatte. Heute ist die Wasserversorgung eines der größten Probleme der Stadt, ein Drittel ihrer Haushaltsmittel wird auf die Wasserversorgung verwandt. „Mir fiel auf, wie viele Schriftsteller und Philosophen sich mit der Geschichte des Wassers auskannten“, erzählt Scherer. „Das Interessante ist, dass Mexiko vor der Kolonialisierung eine Wasserstadt war, im See gebaut. Und es gab eine hoch entwickelte Wasserkultur der Azteken. Die Spanier begannen kurz nach der Eroberung der Stadt die Flüsse und Wasserstraßen in der Stadt zuzuschütten. Die Wasserverdrängung wurde in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts verstärkt, als die Erdölindustrie verstaatlicht wurde und die Autos boomten. Vor diesem Hintergrund entstand die Idee, ein Projekt zur Kulturgeschichte des Wassers und der Europäisierung dieser Stadt zu machen.“
Künstler aus Mexiko und aus Deutschland beteiligten sich an der Markierung verlorener Wasserwege und Bildern der Versteppung. Wieder war es Scherer wichtig, Berührungsängste auch zwischen verschiedenen Milieus vor Ort zu thematisieren und anzugehen.
Das Wasserprojekt war auch ein Vorhaben, das sich mit den Schatten der Kolonialzeit und ihre Folgeschäden in der Entwicklung bis heute beschäftigt hat – und das aufzuarbeiten war tatsächlich auch ein Motiv für viele Programme am HdKW. Dahinter steht noch immer die Forderung vom Erkennen der historischen Verantwortung Europas und der Suche nach mehr Wissen über die weißen Flecken im kollektiven Gedächtnis des Westens. Neben diesen Strang der Motivation ist aber ein zweiter getreten. Wenn in den letzten Jahren Indien, China, Südostasien und arabische Länder auf der Agenda stehen, ist der Grund dafür oft in ihren neu gewachsenen Positionen als politische und ökonomische Macht zu sehen. Das sieht dann oft aus, als hätten politische Interessen die Programmschwerpunkte diktiert. Thomas Krüger von der Landeszentrale für politische Bildung begründete die Beschäftigung mit China: „Man muss wissen, mit wem man es zu tun bekommt.“
Bernd Scherer empfindet diese politischen Implikationen aber nicht als verordnetes Korsett, sondern sieht darin sogar eine Chance. „Der Eurozentrismusverdacht, der westlichen Institutionen immer entgegengebracht wird, hängt nicht daran, dass wir als Europäer unsere Meinung vertreten, sondern dass wir das in der Vergangenheit vor dem Hintergrund getan haben, dass wir politisch und ökonomisch die dominierende Macht waren. Der Machtaspekt führte bei der Meinungsvertretung zum Eurozentrismus, nicht das Vertreten der Meinung an sich. In dem Moment, in dem sich die Welt so verändert und verschiedene Zentren mit eigenen Machtansprüchen entstehen, wie jetzt in China, in Indien, bekommt der Universalismus europäischer Prägung einen ganz anderen Stellenwert. Das wird jetzt zum ersten Mal zu einer richtigen Auseinandersetzung, weil die betroffenen Spieler dasselbe politische und ökonomische Gewicht in die Debatte zu werfen haben. Gleichwohl aber“, fährt er fort, „gibt es heute noch viele Länder, die dieses Gewicht noch nicht haben, in Afrika zum Beispiel und Lateinamerika. Für uns ist es eine große Herausforderung, diese Verschiedenheiten zu sehen und damit umzugehen.“
Im „Umgang mit Verschiedenheiten“ sieht Bernd Scherer auch nach wie vor die politische Bedeutung der Arbeit des HdKW und weniger darin, der Politik kulturelle Begleitprogramme zu liefern. Er glaubt daran, dass „Gesellschaften, die es geschafft haben, mit Differenz kreativ umzugehen, die dynamischeren sind.“ Dass das multikulturelle Gesellschaftsmodell zurzeit diskreditiert wird und damit vehement Politik gemacht wird, hält er denn auch für eine Verkennung der Realität. „Die Fiktion einer völlig homogenen Gesellschaft wird aufrechterhalten, und nur in Konfliktfällen gehen die Alarmlampen an. Das nimmt zu in Zeiten, wo der Druck auf die Gesellschaft größer wird und alte Parameter, nach denen die Gesellschaft gelebt hat, wie die Sozialsysteme, nicht mehr funktionieren. Wir müssen deutlich machen: Deutschland kommt an der multikulturellen Gesellschaft überhaupt nicht vorbei. Davor die Augen zu verschließen oder sie zu verteufeln, ist die falsche Strategie.“