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Archiv-Artikel

Eben eine spröde Gattung

Sein Heine sitzt einfach da, in der Hand ein Buch, lächelt, völlig ohne revolutionäre Geste: Der Bildhauer Waldemar Grzimek hat „von beiden Seiten über die Mauer geschaut“, sagen seine Weggefährten. Erkundung einer unmöglichen Perspektive

Der fing einen Satz an allen Seiten gleichzeitig an. Wie ein Bildhauer eine Figur

von Benno Schirrmeister

Die Geschichte von Waldemar Grzimek endet jetzt in Bremen. Gespielt hat sie in Westberlin und Ostberlin, in Halle an der Saale, in Darmstadt und am Bodensee. Gestorben ist der Bildhauer 1984, und die Stadt Bremen wird in diesem Zusammenhang wichtig, weil das Gerhard Marcks Haus dort steht. Das hat soeben Grzimeks Nachlass erhalten, was „ein Glücksfall für das Museum“ ist, wie dessen Direktor Jürgen Fitschen sagt, und zugleich, wie andere behaupten, „eine fast tragische Analogie zu Marcks“. Auch für dessen Hinterlassenschaft hatte sich einst in Berlin kein Abnehmer gefunden. So kam man an der Weser zu einem Bildhauermuseum.

Die Figur ist ein Riese. Die gold-bräunliche Bronze hat die Form und auch die Proportionen eines Männerkörpers, aber mit anderthalb multipliziert, auch das gedrungene Gemächt das zwischen ihren Beinen frei zu schwingen scheint. Sie ist also eine der größten der über 100 Plastiken, die das kleine Museum erhalten hat und die es, durch einen kuratorischen Coup, fast alle in einer Begrüßungsausstellung aufgestellt hat. Schmerzhaft verzogen ist der Oberkörper der Figur, halb gedreht und nach hinten umgebogen – „Der Gefesselte“ hat der Künstler sie genannt, gegossen ist sie 1966, und in der Plinte, das ist die Bronzeplatte, auf der die Plastik ruht, trägt sie die Initialen W und G.

„Alles Doktrinäre war ihm fremd“, sagt Christian Höpfner über Waldemar Grzimek, und das ist ein Hinweis, warum das Werk sich dem Koordinatensystem jener Zeit entzieht. Die war rückblickend doch recht übersichtlich strukturiert: Vom Osten aus betrachtet herrschte im Westen der kriegstreiberische Klassenfeind. Aus westlicher Sicht fing jenseits der Elbe Sibirien an. Im Westen war die Freiheit des Bildes vom Gegenstand der zugelassene Ausdruck einer freiheitlich-demokratischen Kunstordnung. Da haben Bronzemänner schlechte Karten.

Die ästhetische Doktrin im Osten dagegen war eine entschiedene Sache: Gestützt auf die Beschlüsse des 4. SED-Parteitags von 1954 hätte jeder mittlere Kulturfunktionär locker aufzeigen können, dass ein derartiges Machwerk befangen ist in den Schranken des bürgerlichen Horizonts. Und Grzimek hat, was man ihm, so meint Höpfner, in Berlin noch immer übel nehme, „von beiden Seiten über die Mauer geschaut“. Das klingt nach einer unmöglichen Perspektive.

Christian Höpfner ist auch Bildhauer, bis 2004 war er Professor in Nürnberg. Ende der 1960er-Jahre war er Assistent bei Grzimek, genau wie Richard Heß, Professor in Bielefeld. „Eine Vaterfigur“ nennen Grzimek beide. Heß und Höpfner zählen, in Westdeutschland, zu den radikalsten Vertreter gegenständlicher Plastik. „Unser Ruhm dauert fünfzehn Minuten“, erklärt, gemütlich-sarkastisch, Heß. Höpfner klingt viel depressiver: Der Konflikt abstrakt-figürlich, das war einmal. Jetzt gebe es eigentlich „gar keine Skulptur“ mehr: „Die Skulptur ist doch völlig von der Bildfläche verschwunden.“

Fast weiß fällt das Sonnenlicht im Museumsdirektoren-Büro. Das Wetter passt zur guten Laune, weil die Schenkung der Grzimek-Plastiken dem Museum die Chance bietet, sich vom Namenspatron weiter zu emanzipieren, das Profil zu schärfen, ohne Freiheiten einzubüßen: „Es gibt keine Verpflichtungen“, sagt Fitschen, außer natürlich, das Konvolut zu pflegen. An Grzimek hebt er „den wilden Ausdruck von Emotion“ hervor, der ihn, obwohl Marcks doch sein wichtigster Mentor und Förderer und Freund war, zu dessen „ künstlerischen Antipoden“ mache. Und museumsstrategisch gibt es nichts Reizvolleres, als Antipoden zusammenzustellen.

„Bildhauerei ist eine spröde Gattung“, sagt der Leiter des Bildhauermuseums. Bei Grzimek wird sie sogar kompliziert, und das hat mit der Zeitgeschichte zu tun. 1968 erhält er einen Ruf an die TH Darmstadt: Lehrstuhl für Plastisches Gestalten, Fachbereich Architektur. 50 Jahre ist er da alt, und es handelt sich bereits um seine vierte Professur. Die erste hatte er, kurz nach Kriegsende, in Halle an der Saale angetreten, bis 1961 lehrt er an der Kunsthochschule Weißensee – das ist in Ostberlin. Dazwischen ist er in Berlin-Charlottenburg und wird 1951 vom Senat gefeuert. Kündigungsgrund: zwei Holzschnitte, die Grzimek für eine Nordkorea-Ausstellung stiftet, und die erfolgreiche Teilnahme an einem Wettbewerb für ein Thälmann-Denkmal. Dass Grzimek fürs Projekt DDR so seine Sympathien hegte, davon darf man ausgehen. Sich von Walter Ulbricht dafür einmauern lassen wollte er allerdings nicht, und auch nicht die Staatsraison bebildern: Da ist dieses Heine-Denkmal, dessen Nachguss jetzt vorm Gorki Theater steht. Das Original kam in die Berliner Weinbergstraße. Schließlich hatte es vor 50 Jahren die Apparatschiks schwer enttäuscht: Sitzt einfach da, in der Hand ein Buch, lächelt. Gar nicht kämpferisch. Sich selbst genug. Und völlig ohne revolutionäre Geste.

„Das war ein komplex denkender Mann“, sagt Heß über Grzimek. „Wie der seine Sätze baute!“ Manchmal habe er, Heß, dabei gesessen, während Grzimek diktierte, und sich gedacht, den Satz bringt der nie zu Ende. Irrtum. „Der fing einen Satz an allen Seiten gleichzeitig an. Wie ein Bildhauer eine Figur.“

In solchen Bildhauersätzen hat Grzimek also kunsthistorische Werke verfasst, „weil er sich geärgert hat über die Vereinfachungen der Kunsthistoriker“, sagt Höpfner. Sie handeln über Plastik des Mittelalters, von preußischen Skulpturen, und da ist sogar ein Buch, das heißt „Deutsche Bildhauer des 20. Jahrhunderts“. Geschrieben von einem deutschen Bildhauer des 20. Jahrhunderts – auch eine Art, sich einen Platz zu suchen.

Im November des Mauerbau-Jahrs verlässt Grzimek, 1959 zum Nationalpreisträger gekürt, die DDR. Und gleichzeitig werden seine Figuren, wie soll man’s sagen – wilder, die Rundungen runder, sodass die Kunstkörper, in wundersamer Equilibristik austariert, sich mehr und mehr in eine Art Bewegung setzen. Das geht bis hin zu einer schwül-lastenden Erotik, die ein wenig ratlos macht: „Erwachende“ hat Grzimek die weiße Frau aus Marmor betitelt, die da kauert, aus Stein geschlagen, aber glatt, als wär sie modelliert. Mit derlei Sinnlichkeiten hat auch der konservative Marcks so seine Probleme gehabt – und doch: Die Werke seien „richtig süffig, vollmundig“ geworden, lobt er den 30 Jahre jüngeren Freund 1966. Und befindet’s für gut, weil sich das „für SED nicht gehört“.

SED, 1966? Irgendwie bleibt Grzimek auch im Westen einer von drüben, selbst für Freunde, und trotz radikaler künstlerischer Zäsur. Vielleicht auch weil die DDR von diesem Künstler nie ganz lassen will? Ab 1962 führt die Akademie der Künste Grzimek als „korrespondierendes Mitglied“, 15 Jahre später darf der Renegat ein Bronzeportal fürs Magdeburger Kloster Unser Lieben Frauen schaffen. Das ist da längst kein Kloster mehr, sondern ein Museum: Die „Nationale Sammlung Plastik der DDR“ ist hier untergekommen.

Und Grzimek, auch als Darmstadt-Prof noch wohnhaft in Berlin-West – macht oft in Ostberlin Besuche: Die Tochter aus erster Ehe, Sabina, lebt jenseits der Mauer. Sie ist Bildhauerin. Es gibt Schüler und Vertraute, da wird, über die Grenze hinweg, gemeinsam über Skulptur nachgedacht, auch mit Kollegen wie dem unglückseligen Fritz Cremer, der kurz nach der Scheidung Grzimeks erste Frau geheiratet hatte. Und Staatsbildhauer geworden war.

Auf Gernot Moegelin ist Jana Grzimek nicht besonders gut zu sprechen. Moegelin ist ein später Freund ihres Vaters gewesen und hatte den Nachlass bis 2004 zu verwalten. Danach, so hat es das Testament bestimmt, hätte die jüngste Tochter zu entscheiden, wie es weitergeht. Moegelins Wirken für den verstorbenen Freund darf man als glücklos bezeichnen. Eine Stiftung hätte gegründet werden sollen, aber das hat nicht hingehauen. Und Ausstellungen, na, Moegelin sagt, es sei eine ganze Menge gewesen. Aber die Liste, die er aufs Fax legt, das sind für die Zeit von 1999 an nur zwei Seiten, und sie erwähnt auch Einzelstück-Leihgaben und Kommissionen an Verkaufsgalerien. „Waldemar“, sagt Moegelin jetzt, sei „mit Leib und Seele Berliner gewesen“, und dass er „im Interesse des Künstlers“ die Standortentscheidung bedauere. Aber da ist er bei Jana Grzimek an die falsche geraten. Mit seinen „kunsthistorisch wertlosen Nachgüssen“, verbittet sie sich recht spitz Kritik von dieser Seite, habe „der Herr Moegelin ja alle Mittel bei der Hand, um Berlin zu beglücken“.

Jana Grzimek ist eine impulsive Frau. Das merkt man selbst durchs Telefon. Sie lebt in Tel Aviv, und in Bremen hat sie studiert. Bildhauerei, was sonst? Sie hat auch schon im Marcks Haus ausgestellt, und jetzt darf man dreimal raten, wer die Idee hatte, den Nachlass dort unterzubringen. Auch wenn sie sich schon über die Einladungskarte zur Ausstellung geärgert hat, die heißt „Ein Platz für Plastik“, weil ja der Bildhauer verwandt ist mit dem Tierfilmer, „für Plastik“, sagt Jana Grzimek, „das hört sich ja an als wäre das alles aus Kunststoff“.

Eine oberflächliche Reinigung hat stattgefunden nach der Inventur. Manche der Plastiken haben trotzdem noch Kratzer in der Patina, Lagerspuren. 20 Jahre im Depot, das ist eine Höchststrafe für einen Künstlernachlass. Auch weil das Kapital verkümmert. Die Preise fallen mit der Bekanntheit. Die Bekanntheit sinkt mit der Zahl der Ausstellungen. Und jeder der Effekte verstärkt den anderen. Annähernd lässt sich das messen: Das Kunstportal Artfacts-Net hat sich darauf spezialisiert. In seinem Online-Ranking führt es etwas über 36.000 Künstler. Waldemar Grzimek steht auf Platz 20.871. Das muss nicht so bleiben. Er sei eine wichtige Figur in dieser Epoche gewesen, sagt Fitschen. Mindestens durch die Scharnierfunktion. „Wenn diese Zeit kunsthistorisch aufgearbeitet wird“ sagt Fitschen „wird auch das Werk neu bewertet“ Das weiß er. Ganz sicher. Oder zumindest hofft er’s doch.

Waldemar Grzimek – ein Platz für Plastik, Gerhard Marcks Haus, Bremen. Bis 5. Juni