: Der verengte Blick
SCHLAGLOCH VON SARAH ELTANTAWI Demokratie oder Wahlen erscheinen vielen angesichts der Not zu abstrakt
■ ist Assistenzprofessorin für Vergleichende Religionswissenschaften am Evergreen State College. Ab Oktober wird sie ihre Forschung beim Berliner Forum „Transregionale Studien“ fortsetzen.
Im Juni gingen Millionen Ägypter gegen das Regime von Mohammed Mursi auf die Straße, und weil das Militär ihrem Ruf folge leistete, kam es zu einer Art „Putsch“. Das Geschehen insgesamt aber darf nicht auf einen „Putsch“ reduziert werden. Weswegen ich ein wenig ausholen muss.
Ein wichtiger Aspekt der Muslimbrüder ist die grundlegende historische Dialektik zwischen ihrer religiösen Basis und dem politischen Raum, in dem sie agieren. Die Muslimbruderschaft wurde 1928 unter dem Banner „Der Islam ist unsere Verfassung“ gegründet und entfaltete sich während der ägyptischen Monarchie oft im Bündnis mit dem König. In der Nasser-Ära dann ging die Bruderschaft auf Kollisionskurs mit den ägyptischen Behörden. Das ganze gipfelte in der Erschießung ihres Meister-Intellektuellen Sayyid Qutb.
Islamisierung der Studierenden
Mit der Präsidentschaft Sadats (1970-1981) begann eine Wiederannäherung: Sadat amnestierte die zahllosen Muslimbrüder, die unter Nasser ins Gefängnis gesteckt worden waren. Eine Entwicklung, die 1981 mit dem Attentat auf ihn durch die militante Gama’a Islamija (einem radikalisierten Ableger der Muslimbrüder) jäh endete. Sein Nachfolger Husni Mubarak instrumentalisierte die Muslimbrüder durchgehend als terroristische Schreckgespenster.
Nachdem Sadat die Gründung einer Muslimbrüder-Partei verboten hatte, wurden die Universitäten zum wichtigsten Ort, von dem aus die Muslimbrüder auf die ägyptische Gesellschaft einwirken konnten. Es kam zu einer Islamisierung vieler Studierenden, und immer mehr Studentinnen verschleierten sich infolge des wachsenden Einflusses der Muslimbrüder. Die Einführung der Scharia war und ist das zentrale politische Ziel der Muslimbrüder. Doch wie sie sich das Verhältnis von Staat und Scharia vorstellen, haben sie nie erläutert. Sie ignorieren auch, dass Ägypten ein Land ist, dessen Grenzen seit 7.000 Jahren mehr oder weniger Bestand haben. Stattdessen propagieren sie eine panislamistische Vision, die Nationalgefühle entweder missachtet oder missbilligt.
Diese „Programmatik“ gilt es im Hinterkopf zu behalten, will man verstehen, warum Millionen Ägypter am 30. Juni auf die Straße gingen. Ich war kurz nach diesen Ereignissen in Kairo und nahm ebenfalls an den Kundgebungen teil. Ich interviewte Dutzende von Demonstranten. Und es dauerte eine ganze Woche bis ich endlich einen Mursi-Unterstützer in Kairo gefunden hatte.
Die Medien sind nicht schuld
Als Mursi zur Wahl antrat, gaben ihm viele ihre Stimme, weil er gegen einen Vertreter des Mubarak-Regimes antrat. Die Mehrheit der Ägypter vertraute Mursi ihre Revolution an. Ein Jahr später entschieden sie, dass dieses Vertrauen völlig unangebracht gewesen war.
Manche machen die ägyptischen Medien für diesen dramatischen Sinneswandel verantwortlich, aber tatsächlich war der einzige Unterschied zwischen den Medien vor und nach dem 30. Juni, dass die Islamisten nun ihre eigenen Sender hatten. Nicht, dass ägyptische Medien akkurat oder professionell arbeiten würden – aber das tiefe Misstrauen der Ägypter gegenüber der Muslimbruderschaft mit einem Propagandafeldzug der Medien zu erklären, ist reine Verschwörungstheorie.
Zudem war Mursis Kabinett voll mit Mubaraks Leuten – er teilte die Macht mit Mitgliedern des Militärs und des alten Regimes. Das war sicher nicht der Sinn der Revolution. Aber der Sinn war auch nicht, die Sektiererei zu fördern oder das Land in die Hand eines Klubs mit intransparenter Agenda zu legen. Insofern schien das ein akzeptabler Kompromiss zu sein. Für die meisten Ägypter verlor Mursis Regierung jedoch jede Legitimität, als sie im November 2012 per Dekret erklärte, Mursi stehe über dem Gesetz. Sehr schnell folgte ein Referendum für eine zutiefst islamistisch geprägte Verfassung, die handwerklich zudem äusserst stümperhaft war.
Jene, die ich auf den Kundgebungen für den neuen, nun vom Militär eingesetzten Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi getroffen habe, sind überzeugt davon, das Land vor einem Desaster bewahrt zu haben. Die Erleichterung war greifbar, als ob die Menschen seit langer Zeit wieder atmen konnten.
„Mein lieber Stamm“
Eine Frau erklärte es mir so: „Stell dir vor, dass du Ägypten regierst, aber nur Englisch sprichst und deshalb nur mit deinen amerikanischen Freunden redest. Das ist, was Mursi den Ägyptern angetan hat – er hat nicht mit uns gesprochen. Er hat uns ignoriert und nur mit seinen Leuten geredet.“ Es habe sie erschaudern lassen, wenn Mursi sein Publikum mit „Ahli wa Ashiiraati“, „meine Familie und mein Stamm“, adressierte.
„Stamm“ ist ein Ausdruck, der mit der prä- oder frühislamischen Ära in Verbindung steht. Nasser sagte „Aajuha al-ikhwaa il-muwaatinuun!“ (Meine Brüder und Mitbürger). Sadat änderte die Ansprache in „Aajuha al-ikhwaa w’al ikhawaat!“ (Meine Brüder und Schwestern).
Hinzu kommt, dass die Religiosität und die islamische Lehre der Menschen infrage gestellt wurden von Leuten, die sich für besser Muslime halten – und damit auch für bessere Menschen. Am unerhörtesten aber schien, dass die Muslimbrüder das zerstörten, was viele als „ägyptische Identität“ betrachten. „Unsere Kultur, unser Sanftmut, unsere Offenheit, unsere Toleranz“, erklärte jemand. „In einer Lage, in der die Menschen Not leiden, ist das etwas, das du nicht anrühren darfst.“
Der Westen indessen ist auf Wahlen fixiert und begreift die Ereignisse seit dem 30. Juni entsprechend als großen Rückschlag für die Demokratie. Für die Mehrheit der Ägypter ist dieser Punkt im Moment aber nicht wichtig. Sie haben instinktiv erkannt, dass die Revolution unter Mursi nicht respektiert und vorangebracht werden würde. Und sie haben sich laut und klar gegen einen Verrat der Revolution ausgesprochen. Man kann das als eine Form von Demokratie bezeichnen.
Das Problem aber ist, dass die meisten Ägypter sich nicht um Termini kümmern und die Debatte um die Demokratie für irrelevant, sogar für westlich naiv halten.