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Archiv-Artikel

Forschergeist statt Kreidephysik

INSPIRATION Mehr als 200.000 „Mint“-Fachleute fehlen deutschlandweit: Mathematiker, Informatiker, Physiker oder Techniker. Schülerlabore sollen Abhilfe schaffen

Gerade in den Fächern Physik und Chemie ist der Lehrermangel groß, nicht selten müssen Biologie- und Mathematik- Kollegen einspringen

VON BIRK GRÜLING

Es herrscht gespannte Ruhe in dem kleinen Quantenlabor auf dem Gelände des Deutschen Elektronen-Synchrotron (Desy). Das Licht ist gedimmt, im Flüsterton werden Messergebnisse weitergegeben. Die Oberstufenklasse eines Chemnitzer Gymnasiums widmet sich hier im Labor des Hamburger Teilchenbeschleunigers dem Phänomen Licht. An klassischen Physikunterricht erinnert hier nichts. An der Tafel stehen keine ellenlangen Formeln, und auch Schulbücher sucht man vergeblich. Selbst die beiden Lehrer haben sich in eine Ecke verzogen. Heute läuft es ohne sie.

„Wir machen keinen Schulunterricht, bei uns bekommen die Schüler einen Einblick in wissenschaftliche Prozesse“, erklärt Karen Ong, Leiterin des Desy-Schülerlabors. Für den Physikkurs aus Chemnitz bedeutet das anstrengende Forscherarbeit. Laura und Marie etwa sind den Quantenteilchen und ihrer Bewegung auf Spur. Die Teilchen können Hindernisse umgehen, indem sie sie einfach „untertunneln“. In der Physik spricht man vom Tunneleffekt. Mit bloßem Auge ist der nicht zu beobachten, deshalb wird mit Prismen und Lasern gearbeitet. Die Notizzettel der beiden Schülerinnen sind bereits randvoll mit Zahlen, auf dem Laptop zeigt ein Graph die Messergebnisse.

Jesper Dramsch, angehender Geophysiker und studentischer Betreuer, nickt anerkennend angesichts der Messergebnisse der beiden. „Ihr seid auf einem guten Weg.“ Noch eine Stunde hat die Gruppe Zeit, dann werden die Ergebnisse präsentiert.

„Der Tag hier soll den Schülern einen Einblick in den Berufsalltag von Physikern geben und zeigen, dass hier keine verrückten Professoren in weißen Kitteln arbeiten“, sagt Karen Ong. Zu diesem Einblick auch ein Gang in die Kantine des Teilchenbeschleunigers. „Das internationale Flair und die vielen verschiedenen Fachleute beeindruckt die Jugendlichen schon. Diese Rückmeldung geben uns jedenfalls die Lehrer“, sagt Ong. Der Motivationsschub aus dem Tag als Physiker hält auch noch nach der Rückkehr in den Schulalltag an, jedenfalls für ein paar Wochen.

Wunder kann ein Lernort wie das Desy allerdings auch nicht vollbringen, schließlich bleiben die Schüler nur für einen Tag. Das vermittelbare Wissen ist entsprechend begrenzt. Dennoch glaubt Ong an die Wichtigkeit dieser Angebote. „Wir zeigen den Schülern, welche Eigenschaften Wissenschaftler ausmachen, nämlich Neugier, Selbstorganisation und der Wunsch, etwas genau zu verstehen.“

Der naturwissenschaftliche Unterricht in der Schule tut sich deutlich schwerer, diesen Reiz an die Schüler weiterzugeben. Gerade in Physik und Chemie ist der Lehrermangel groß, nicht selten müssen Biologie- und Mathe-Kollegen einspringen. Die Folgen werden gerne als „Kreidephysik“ bezeichnet: Formeln statt Experimente, stundenlanges Berechnen statt neugierigem Forschen.

Als Konkurrenz betrachten sich die Schülerlabore aber nicht, eher als Ergänzung. „Bei uns kann man ohne Notendruck experimentieren und sich mit Phänomenen beschäftigen, die in unserer Welt alltäglich sind“, sagt Jesper Dramsch. Der Student nahm an einem der ersten Schülerworkshops am Desy teil und ist inzwischen selbst auf dem Weg zum Physiker. „Ich mag die Arbeit hier. Ich erkläre spannende Dinge und kann vielleicht etwas Neugier für Naturwissenschaften wecken“, sagt er. Die Hauptrolle überlässt er aber den Schülern selbst. Sie sollen sich am Ende gegenseitig erklären, was sie herausgefunden und verstanden haben.

Von der Arbeit außerschulischer Lernorte ist auch Daniel Giese, Pressesprecher des Wettbewerbs „Jugend forscht“, überzeugt. „Die Schüler arbeiten im Team an einer Fragestellung, präsentieren ihre Ergebnisse und müssen aufkommende Fragen verständlich beantworten.“ So würden nicht nur naturwissenschaftliche Inhalte, sondern auch „Soft Skills“ vermittelt.

Anders als in dem Desy-Schülerlabor beschäftigen sich die „Jugend forscht“-Teilnehmer länger mit den oft selbst entwickelten Forschungsfragen. Betreut werden sie dabei von Fachlehrern und anderen ehrenamtlichen Helfern. Gegründet wurde der Wettbewerb bereits 1965, damals unter dem Slogan „Wir suchen die Forscher von morgen“. Aus dem kleinen Beitrag zur damaligen Bildungsdebatte ist der wohl bekannteste Nachwuchswettbewerb Deutschlands geworden. Pro Jahr nehmen inzwischen mehr als 10.000 Schüler teil. Ausgetragen wird er in drei Runden: Die Sieger der Regionalwettbewerbe treten auf Landesebene an. Am Ende steht das Bundesfinale. „Wir beobachten eine große Begeisterung, die bei den Teilnehmern entsteht. Gerade die Präsentation der eigenen Arbeit macht den jungen Forschern Spaß“, sagt Giese.

Für viele hat die Teilnahme auch in Sachen Berufswahl positive Effekte. Laut Erhebung wählen neun von zehn Teilnehmern des Bundesfinales am Ende auch ein naturwissenschaftliches Studium. Ein positiver Trend, der sich mit mehr außerschulischen Lernorten für Naturwissenschaften vielleicht noch verstärken lassen könnte. Bedarf dafür gibt es auf jeden Fall: Der deutschen Wissenschaft fehlen zur Zeit rund 210.000 Mathematiker, Informatiker, Naturwissenschaftler und Techniker.

Informationen zum Hamburger Schülerlabor: physik-begreifen-hamburg.desy.de Bundesverband der Schülerlabore: www.lernort-labor.de