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Archiv-Artikel

Wer hier mit wem spielt, ist im steten Fluss

GEMISCHTE GEFÜHLE Die Kamera, die Figuren, die Geschichte: Bei dem französischen Regisseur Jacques Doillon bewegen sich alle, als ob sie kein Ziel hätten. Sein Film „Le premier venu“ läuft heute im Babylon-Mitte

Beim Zusehen verliert man die Gewissheit, was angemessen, was richtig wäre

VON CRISTINA NORD

„Le premier venu“ spielt an der Küste, irgendwo im Norden Frankreichs. Die Grenze zwischen Meer und Land ist unbestimmt, weit erstreckt sich ein Gebiet aus Schlick und Wasser, Marsch und Tümpeln. Ein Zwischenland, nicht ganz fest, nicht ganz flüssig, so unentschieden wie die Jahreszeit: nicht mehr Winter, noch nicht ganz Frühjahr. Die Sonne scheint zwar, aber die Figuren tragen Wollpullover, Mäntel und Jacken.

Alles ist Übergang in den Filmen des 1944 geborenen französischen Regisseurs Jacques Doillon, aber ein Übergang, der seine Richtung nicht kennt. Die Landschaft, die Figuren, die Kamerabewegungen, sie alle können nicht entscheiden, was ihr Ziel ist, sie bewegen sich, aber wissen nicht, wohin. Sie quälen sich selbst damit, und manchmal überträgt sich diese Qual auf den Zuschauer, weil der sich danach sehnt, dass das Treten auf der Stelle ein Ende findet.

Schon in Doillons Debüt aus dem Jahr 1974, „Les doigts dans la tête“ („Die Finger im Kopf“), war das so. Der Regisseur arbeitete damals mit jugendlichen Laiendarstellern; der Film handelt von einem Bäckerlehrling, dem gekündigt wurde. Ohne die Lehrstelle steht ihm sein Zimmer nicht mehr zur Verfügung, doch statt es zu räumen, verschanzt er sich darin mit Freunden – ein Ausweg aus der Situation wird, je länger der Film dauert, umso unwahrscheinlicher.

Ein ständiges Hin und Her

In „Le premier venu“, „Der Erstbeste“ (2007), der heute in der Reihe „La French Connection“ im Babylon-Mitte läuft, geht es um eine junge Frau, Camille (Clémentine Beaugrand). Sie landet in dem Küstenort, nachdem sie einem jungen Mann, Costa (Gérald Thomassin), dorthin gefolgt ist. Es ist ein sonniger Morgen, die beiden halten sich am Bahnhofsvorplatz auf und bewegen sich, als wären sie Magneten. Je nachdem, welche Pole sie einander zuwenden, ziehen sie sich an oder stoßen sie sich ab. Die Kamera erfasst sie abwechselnd als Paar und dann wieder als Einzelne, umkreist sie. Manchmal fährt sie von rechts nach links an ihnen vorbei, geht mit dem, der sich nach links bewegt, mit, lässt den anderen hinter dem rechten Bildrand zurück, kehrt nach dem Schnitt zu ihm zurück, ein ständiges Hin und Her.

Die Vorgeschichte von Camille und Costa zeichnet sich in ihrem Gespräch ab. Offenbar haben sie sich, noch in Paris, kennengelernt und geflirtet, nachdem Camille beschlossen hatte, sich dem Erstbesten hinzugeben. Doch als Costa mit ihr schlief, geschah das gegen ihren Willen. Ein paar Mal fällt das Wort Vergewaltigung, ob es trifft, wird nicht ganz klar – oder besser: Man will es Camille nicht glauben, da sie sich um Costa zu bemühen scheint. Warum sollte sie das tun, wenn er sie vergewaltigt hat?

Doch Doillons Filme stellen genau solche Vorstellungen von psychologischer Kausalität infrage. Sie setzen Gefühlslagen in Szene, die von asymmetrischen Machtbeziehungen, von Gewalt nicht frei sind, und sie tun dies so, dass man beim Zusehen die Gewissheit verliert, was in der jeweiligen Situation angemessen, was richtig wäre. Je weniger definierbar, je widersprüchlicher ein Gefühl, umso hartnäckiger erkundet es Doillon.

Die Macht bröselt

In „Raja“ aus dem Jahr 2003 etwa geht es um Fred, einen älteren Junggessellen aus Frankreich (Pascal Greggory), der sich auf ein weitläufiges Anwesen in Marrakesch zurückgezogen hat. Er verliebt sich in Raja, eine 19 Jahre alte Waise und Gelegenheitsprostituierte (Najat Benssallem), die in seinem Garten Unkraut jätet. Sie braucht Geld, er hat es im Überfluss. Scheinbar liegt alle Macht bei Fred, aber „Raja“ zieht die Gewissheit dieses ersten Eindrucks in Zweifel: Wer hier mit wem spielt, wer wen begehrt oder gar liebt, ist in stetem Fluss.

So ähnlich ist es auch in „Le premier venu“. Es dauert nicht lange, und ein zweiter Mann taucht auf, ein möglicher Konkurrent für Costa. Der wiederum hat ein drei Jahre altes Kind und eine Exfreundin, die ihm den Kontakt verwehrt. Der Film schlägt Haken Richtung Komödie und Richtung Krimi und landet doch immer wieder im Marschland. Dort ist der Horizont weit, die Füße aber bleiben im matschigen Grund stecken.

■ „Le premier venu“, Regie: Jacques Doillon. Mit Clémentine Beaugrand, Gérald Thomassin u. a., Frankreich 2007, 123 Min., heute um 20.30 Uhr im Babylon-Mitte.

■ Frühere Filme von Doillon sind im Videodrom und in der Filmgalerie 451 ausleihbar