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Archiv-Artikel

Vor der Verrichtungsbox

DAS SCHLAGLOCH von HILAL SEZGIN

Die Kampagnen gegen die Zwangsprostitution setzen zu Recht bei den Freiern an

Im Nachhinein ist schwer zu sagen, wann genau die Diskussion erlahmte. Historisch lässt sich das Phänomen an sich schon bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen: dass die Frauenbewegung einerseits die Prostitution als sexistische Praxis kritisierte – und andererseits die Stigmatisierung der Prostitution und der Prostituierten als Bigotterie. Dass sie also mit der einen Hälfte ihrer argumentativen Verve an dem Holzbein sägte, auf dem sich die Prostitution über alle rechtlichen Verbote und durch alle gesellschaftlichen Schichten balancierte; mit der anderen Hälfte sägte sie an der Säge selbst.

Ein Jahrhundert später, ungefähr Anfang der 1990er-Jahre, mündete dieselbe Ambivalenz – diesmal aufseiten der neuen Frauenbewegung – in die Auffassung, man solle das Thema Prostitution vorerst einfach mal ruhen lassen. Generell hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass ein Opferdiskurs („Die armen Dinger …“) dem feministischen Anliegen der Selbstermächtigung von Frauen zuwiderläuft. Zum Zweiten hatten sich Prostituierte zu Vereinen zusammengeschlossen, die mit einigem Selbstbewusstsein forderten, man und frau möge bitte auch ihre Arbeit achten. Prostitution, ein Beruf wie jeder andere. Kann in manchen Fällen Ausbeutung sein, wie alles im Kapitalismus, ist ansonsten aber frei gewählt. Und weil der Frauenbewegung die Berufstätigkeit der Frau, ihr Recht und ihre Pflicht, für sich selbst zu sorgen, so unantastbar ist wie die Würde des Menschen im Grundgesetz, war das Argument „Prostitution ist Arbeit“ das Trumpfass, das alle anderen ihre Karten in ehrfürchtigem Schweigen auf den Tisch werfen ließ.

Geben wir es zu: Wir waren nicht unfroh, dieses verzwickte und unappetitliche Thema, bei dem man ständig Gefahr lief, mit seiner eigenen bürgerlichen Zimperlichkeit oder potenziellen sexuellen Verklemmtheit konfrontiert zu werden, zugunsten der Themen Pro und Contra Abnehmen, der Frage universitärer Theoriebildung oder Projekten der ökologisch verträglichen Wohnungsverschönerung ad acta legen zu können. Seitdem nahm auch der sich dem feministischen Ideengut zuneigende Teil der deutschen Bevölkerung die Existenz der Prostitution mit derselben Mischung von Unverständnis und Gleichmut hin wie etwa die Raumfahrt. Ob dafür wirklich so furchtbar viel Geld ausgegeben werden muss und ob dasselbe auf Erden nicht viel unkomplizierter zu regeln wäre? Das Urteil lautete insgesamt: Verbieten braucht oder darf man das Ganze nicht.

Erst die moralisch-politische Debatte über Zwangsprostitution brachte auch das Thema Prostitution zurück: das zunehmende Einschmuggeln und Einschleusen von Frauen vornehmlich aus Osteuropa, bisweilen auch Südamerika, Südostasien und Afrika zum Zweck der Prostitution. Die betreffende Frau wird über diesen Zweck gänzlich getäuscht oder auch nur über das Ausmaß ihrer Ausbeutung und Unselbstständigkeit, und so reichen die Verbrechen am Anfang von Kidnapping bis Betrug. Das dauerhafte Elend der Ausbeutung aber fängt damit erst an. Dazu setzen Schleuser und Zuhälter nicht nur physische Gewalt ein, sondern es ist das Ausländerrecht, das mit zweien seiner Grundvoraussetzungen die Bedingungen für eine geradezu beliebige Erpressbarkeit der Frauen schafft.

Prinzip 1: Nicht jeder, der will, darf in Deutschland leben. Prinzip 2: Um die Lebensform Ehe zu schützen, kann das Aufenthaltsrecht durch Eheschließung erworben werden. Das soll gerade auch Frauen Rechtssicherheit bieten, kann mancher aber zur Falle werden: wenn sie sich nämlich, weil sie anders nicht an Prinzip 1 vorbeikommt, Prinzip 2 zunutze macht und die Ehe mit einem eingeht, den sie aus persönlichen Gründen nicht hätte heiraten wollen und für den sie dann arbeiten muss. Hat sich eine Frau erst einmal in diesen Dunkelgraubereich des beinahe noch Legalen begeben, oder – noch schlimmer – hat man sie erst einmal dorthin verschleppt, gibt es kaum ein Entkommen.

Anders als beim Rest der Prostitution treffen bei der Zwangsprostitution so viele verschiedene Gewaltfaktoren zusammen, dass sich die moralische und politische Frage nicht mehr stellt, ob man „dafür“ oder „dagegen“ ist. Schließlich wird diese Form der Prostitution von den betroffenen Frauen nicht nur faktisch, sondern definitionsgemäß nicht gewollt. Ja, sogar der Mehrzahl der Freier ist unbehaglich zumute bei dem Gedanken, sie könnten die Dienste einer unfreiwilligen Prostituierten in Anspruch nehmen oder genommen haben.

Insbesondere Stammkunden bemerken oder ahnen manchmal die Zusammenhänge. Keineswegs ist ihnen völlig egal, warum die Betreffende es mit ihnen tut. Doch fehlt es den Freiern meist an der nötigen Information, was ihrerseits zu tun ist, und der entscheidenden Prise Zivilcourage, es auch zu tun. Wer einen Verdacht hat, will mehr über die Umstände wissen, bevor er seinen Verdacht äußert. Und wer schließlich zur Polizei geht, müsste einen Namen dalassen – hier wird die Schamgrenze berührt.

Dabei sind die Freier meist die einzige Schnittstelle zur Gesellschaft, die illegal hier lebende Frauen haben – vor der Polizei. Noch bevor das Strafrecht einsetzt, noch bevor Abschieberegelungen und -fristen in Kraft treten. Daher setzen die inzwischen drei bundesweiten Kampagnen gegen die Zwangsprostitution, die deutsche Frauenorganisationen anlässlich der Fußball-WM ins Leben gerufen haben, bei den Freiern an, installieren Internetseiten und Hotlines, bei denen sie Informationen erhalten und Hinweise hinterlassen können.

Ein Missverständnis wäre es jedoch, zu meinen, dass nur oder in besonderem Maße während der WM mit Zwangsprostitution zu rechnen sei. Fantasiezahlen kursieren bereits, wie viele tausend Frauen gegen ihren Willen eingeschleust werden könnten. Es spricht für die Schweden, dass sie auf dieser Grundlage einen WM-Boykott in Erwägung zogen – während nur wenige Fußballer des Gastgeberlandes ihren Namen für die Kampagnen zur Verfügung gestellt haben.

Prostitution kann in manchen Fällen Ausbeutung sein, ist ansonsten aber frei gewählt

Allerdings haben die an den Kampagnen beteiligten Frauenvereine längst richtig gestellt, dass ein deutlicher Anstieg von Zwangsprostitution für diese kurze Zeitdauer unwahrscheinlich ist. Wohl aber ein deutlicher Anstieg von Prostitution überhaupt. Die Kampagnen nutzen diese Präsenz der legalen Prostitution, um das Bewusstsein der Kunden für den Menschenhandel zu schärfen: Zwangsprostitution ist kein Kavaliersdelikt.

Ist aber das Aufsuchen einer Prostituierten eines? Klugerweise klammern die Kampagnen diese Frage völlig aus. Manch eine Frau, die den Plakaten gegen Zwangsprostitution begegnet, wird sie sich dennoch stellen. Und der Anblick der so genannten Verrichtungsboxen, die einige Städte derzeit aufstellen, bringt die durchschnittliche Bundesbürgerin näher an den Rand ihres Vorstellungsvermögens, als es jeder Gesteinsbrocken aus einem anderen Sonnensystem vermag.

Was um Himmels willen bringt Männer dazu, etwas in solchen Boxen zu verrichten? Wieso, weshalb, warum? Da naht sie wieder, die verzwickte, unappetitliche Diskussion – die wir aber nicht wieder gleich beschließen, sondern nur vertagen möchten.