Von Toten, von Lebenden

AUS GUBENBARBARA BOLLWAHN

Es gibt immer einen, der den Stein ins Rollen bringt. In dieser Geschichte ist es Wolfgang Teske, 72, der immer dann den meisten Spaß hat, wenn er Widerstand spürt und er sich ins Zeug legen muss. Das war schon in den 60er-Jahren so. Da eröffnete der Forstingenieur im brandenburgischen Guben ein Ausflugslokal mit angeschlossenem „Heimattiergarten“. Neben Mardern, Iltissen und Wölfen schaffte er exotische Affen ran. Das trug ihm den Spitznamen „Affen-Teske“ ein. 1992 gab er das Lokal auf, seitdem widmet er sich dem Naturschutz. Und dem Erhalt alter Industriefabriken, von denen es in der Stadt an der Grenze zu Polen reichlich gibt. Aus Affen-Teske wurde „ein engagierter Lokalpatriot“.

Diesen Titel hat ihm jemand verliehen, der seit Jahren Diskussionen um Ethik und Moral auslöst: der Leichenplastinator Gunther von Hagens. Der Mann, der sich mit seinen Ganzkörperplastinaten als Künstler und Volksaufklärer versteht und nie ohne Beuys-Hut auftritt, hat Grund, Teske dankbar zu sein. Nachdem er vor einem knappen Jahr mit seinen Plänen gescheitert war, in Polen eine Plastinationswerkstatt aufzubauen, rief Teske ihn in seinem Institut in Heidelberg an. Er hatte Glück, von Hagens, der meist in China oder Kirgisien weilt, war im Lande. Teske erzählte ihm von der stillgelegten Tuchfabrik Gubener Wolle und dem Plan der Stadt, das Rathaus zu verkaufen, das dort in einem Gebäudeteil untergebracht ist. Der Rentner lud ihn nach Guben ein und informierte den Bürgermeister, er habe einen Kaufinteressenten.

Das informelle Treffen mit Bürgermeister Klaus-Dieter Hübner (FDP) wurde dennoch publik, es setzte eine Diskussion weit über die Stadtgrenzen hinaus in Gang. Vor Tabubruch und Verletzung der Menschenwürde warnen seitdem Vertreter der Kirche, Landtagsabgeordnete und Regierungsmitglieder in Brandenburg. „Positive Imagewirkung“, millionenschwere Investitionen und Arbeitsplätze erhofft sich der Bürgermeister. In einem offenen Brief, verlesen auf einer öffentlichen Sitzung des Stadtparlaments im Dezember 2005, lobte der Plastinator Wolfgang Teske als „engagierten Lokalpatrioten“ und bedauerte, dass dieser „in einem Akt kommunikativer Begeisterung unerwartet an die Öffentlichkeit ging“. Die verschuldete Stadt machte kurzerhand 3.500 Euro locker und organisierte von Hagens im Januar einen Auftritt in der Sporthalle, auf dass der seine Pläne darlege. Von Hagens reiste mit mehreren Körperspendern sowie einem plastinierten Gorilla an, verschenkte Kataloge seiner Ausstellung „Körperwelten“, betonte seine DDR-Herkunft, stellte Arbeitsplätze in Aussicht, lobte den Bürgermeister als „weisen Mann“ und wurde von der Mehrheit der 700 Besucher gefeiert wie ein Heilsbringer.

Nächsten Mittwoch nun ist es soweit: Die 28 Abgeordneten und der Bürgermeister entscheiden in nichtöffentlicher Sitzung über den Verkauf des Rathauses. Dessen Verkehrswert liegt bei bescheidenen 76.000 Euro, der Rest der Gubener Wolle ist im Besitz einer Sanierungsgesellschaft und wäre für einen symbolischen Euro zu haben.

Ob Guben über Leichen gehen wird, ist schwer zu sagen. Das Stadtparlament ist bunt gemischt: Neun Abgeordnete hat die CDU/FDP/DSU-Fraktion, acht die PDS, fünf die „Gruppe Unabhängiger Bürger“, vier die SPD und zwei das „Bündnis für Guben“. Einigkeit herrscht nur bei SPD und PDS. Die sind dagegen.

Wolfgang Teske residiert mit seiner „Gesellschaft für Naturschutz“ in einer zweistöckigen Villa von verblichenem Glanz schräg gegenüber der Gubener Wolle. Hier hat er den Leerstand stets im Blick. Auf dem Kopf eine Wollkappe, um den Hals einen Schal, in der Hand ein Schlüsselbund, ruft der Rentner seine Deutsche Dogge Tarsi vom Gartenzaun zurück. Das Furcht einflößende schwarze Tier bewacht das einstige Wohnhaus eines Tuchfabrikanten, das zu DDR-Zeiten Sitz der SED-Kreisleitung war und nach der Wende Arbeitsamt. Vor zwei Jahren hat Teske es ersteigert. Von den 30 Räumen nutzt er nur einen, als Büro.

Mehr als um bedrohte Fischadler kümmert er sich derzeit um die Ansiedlung des potenziellen Investors. Teske schwärmt von dem „Grenzgänger“ von Hagens und dessen „Weltunternehmen“, von dem ganz Guben profitieren würde: die Gastronomie, der Tourismus, die Handwerker. „Alle verdienen daran!“ Er wirft einen altersschwachen Heizlüfter an, um den kalten Raum wenigstens etwas zu erwärmen. „Man soll sich um die Würde des Menschen vor seinem Tod kümmern!“, ruft er gegen das laute Brummen des Lüfters an. „Fünf Millionen Arbeitslose in Deutschland, das ist würdelos!“

Die Arbeitslosigkeit liegt in Guben bei über 20 Prozent. Seit dem Mauerfall wurden tausende Arbeitsplätze im Chemiefaserwerk abgebaut, die Gubener Wolle und das Hutwerk geschlossen. Von einst 30.000 Einwohnern haben seit der Wende 9.000 die Stadt verlassen. Auch wenn die Fußgängerzone hübsch saniert ist und ein neues Zentrum mit Hutmuseum, Musikschule, Bibliothek und neuem Rathaus entsteht, verfallen große Teile der Stadt. „Jede Ansiedlung wäre günstig, um unserer Aufgabe gerecht zu werden“, sagt die Sprecherin des Arbeitsamts. „Guben hat es dringend nötig.“

Von Hagens profitiert von der Hoffnungslosigkeit. „Ich finde nicht schön, was er macht. Aber wenn es Arbeitsplätze bringt …“, sagt die Zeitungsfrau. „Wegen der Arbeitsplätze wäre es für die Stadt nicht verkehrt“, meint die Verkäuferin in der Fleischerei. „Es wäre nicht schlecht, wenn irgendwas nach Guben kommt“, sagt der Taxifahrer, der mehr Zeit mit Warten als Fahren verbringt. „Ich würde nicht damit werben“, sagt die Betreiberin der Pension „Zur Neiße“, in der man automatisch landet, weil es kein Hotel in Guben gibt. „Aber wir leben nun mal vom Tourismus.“

Statt für oder wider die Menschenwürde wird in Guben um das Für und Wider von Arbeitsplätzen diskutiert: Wer gegen die Ansiedlung des Plastinators ist, ist dafür, dass es Arbeitslose gibt. „Mit anderen Positionen nicht umgehen zu können ist ein Erbe der Diktatur. Zu DDR-Zeiten hieß das schief diskutieren“, sagt Pfarrer Michael Domke, der mit einem Dutzend Mitstreitern das „Aktionsbündnis Menschenwürde“ gegründet hat. Auch PDS- und SPD-Mitglieder sind dabei.

Der Bürgermeister will sich vor der Sitzung am Mittwoch nicht äußern, aber der Vorsitzende der Stadtverordnetenversammlung, Klaus-Dieter Fuhrmann (CDU). Der 49-jährige Rechtsanwalt sitzt im blau gestreiften Anzug mit blauer Krawatte und gestutztem Schnauzbart in seiner Kanzlei in der Fußgängerzone und stellt nach wenigen Minuten die Diskussion in Guben auf eine Stufe mit Erkenntnissen, die die Welt grundlegend verändert haben. „Vielleicht wäre Amerika nicht entdeckt worden oder die Erde noch immer eine Scheibe, wenn es nicht mutige Männer und Frauen gegeben hätte.“ Ethik und Moral, betont der Christdemokrat, der „mit großer Begeisterung“ 2001 die Ausstellung „Körperwelten“ in Berlin gesehen hat, seien nicht unbedingt in Gesetzen zu regeln.

Fuhrmann stellt klar, dass die Stadtverordneten keine Einmischung von außen brauchen. „Aus Berlin und Potsdam kann man kluge Worte schicken. Aber dort kennt man die Verhältnisse hier nicht.“ Er ist überzeugt: „Kommt von Hagens nach Guben, kommt auch Arbeit.“ In einer „gebeutelten Region“ seien selbst fünf, zehn oder zwanzig Arbeitsplätze wichtig.

Nach von Hagens Auftritt im Januar hat dessen Institut „eine erhöhte Nachfrage“ von Körperspendern aus der Gegend verzeichnet: 45 in Potsdam und Brandenburg, 75 in Frankfurt (Oder), 47 in Cottbus. Auch von zwei Gubenern kamen Einverständniserklärungen, ihre Körper plastinieren zu lassen. Eine hat Karin Türke unterschrieben.

Die 51-Jährige wohnt im Neubaugebiet Obersprucke, wo ein Denkmal daran erinnert, dass Wilhelm Pieck, der erste und einzige Präsident der DDR, hier geboren wurde. Die Frührentnerin Türke, die als Textilfacharbeiterin im Chemiewerk gearbeitet hat und seit 1998 berufsunfähig ist, sitzt beim Kaffee in ihrem Wohnzimmer, das von einer grünen Couchgarnitur und einer rustikalen Schrankwand beherrscht wird. Bereitwillig erzählt sie, warum sie ihren toten Körper dem Plastinator vermacht: „Meine Hülle vermodert sonst nur, und so kann ich nach dem Tod noch was Gutes tun.“ Nachdem sie die „Körperwelten“-Ausstellung in Berlin gesehen hatte, besorgte sie sich einen Organspendeausweis. Und im Januar, beim Auftritt des Plastinators in Guben, nahm sie einen Körperspenderantrag mit und schickte ihn wenige Tage später nach Heidelberg. Gegen die Skepsis ihres Sohnes und ihres Bruders, gegen die Ablehnung ihres Freundes und dessen Eltern. „Kann ich das nicht selbst entscheiden?“, fragt sie.

Nun arbeitet sie sich durch einen Fragenkatalog, mit dem von Hagens ausloten will, wie weit er bei seiner „ästhetischen Erlebnisanatomie“ gehen kann. Noch hat Karin Türke nicht alle 58 Fragen beantwortet. Ob ihr plastinierter Körper auf einem nachgebautem Geisterschiff als Fliegender Holländer ausgestellt werden darf? Ob sie der Nachstellung des Abendmahls mit Plastinaten zustimmen würde? Ob sie damit einverstanden wäre, dass ihr Körper öffentlich verwest? „Ich will das nicht leichtfertig beantworten“, sagt sie. Bei der Frage, ob sie mit Crashtests mit ihrem Körper einverstanden wäre, tendiert sie zu „Ja“. „Es muss ja Leute geben, die sich zur Verfügung stellen.“

Karin Türke legt die rechte Hand aufs Herz. „Ich habe ein sehr gutes Gefühl dabei“, sagt sie. „Ich bin zur Ruhe gekommen.“ Wäre sie arbeitsfähig, sie würde sich um eine Stelle in der Plastinationswerkstatt bewerben.