: Todernste Spielereien
AUSSTELLUNG In Frankfurt ist das reiche Werk des brasilianischen Künstlers Hélio Oiticica zu entdecken – passend im Palmengarten und im labyrinthischen Bau des MMK
VON ULF ERDMANN ZIEGLER
Unsere kulturelle Vielfalt ist unser größtes Kapital in einer sich rasch verändernden Welt – schreibt die brasilianische Kulturministerin im Grußwort zu einem Katalog, den das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main soeben veröffentlicht hat. Keine Frage, den zum Anarchistischen neigenden Künstler, der jetzt 76 alt wäre, hätte dieses vorsichtige, späte Bekenntnis seiner Regierung vielleicht doch gefreut. Tatsächlich aber starb Hélio Oiticica 1980 mit 42 Jahren, nachdem er kurz zuvor von New York nach Rio zurückgekehrt war. Nicht zu fassen, die brasilianische Diktatur hatte ihn überlebt.
Ein reiches Werk, von entzückenden Farbfeldmalereien des Neunzehnjährigen über symbolhafte Materialhäufungen in Gläsern, Becken und Kisten bis zu begehbaren Labyrinthen, mündend in Entwürfe für nomadische Stadtskulpturen: All das wurde von den Brüdern des Künstlers gut verwahrt, gelegentlich ausgeliehen, und es ist der Neffe César Oiticica Filho, der zur großen Werkschau in Frankfurt nicht nur als Kokurator auftritt, sondern zusätzlich, im Kino, einen Dokumentarfilm über seinen schwulen Onkel beisteuert, mit flammenden Bildzeugnissen. Damit hat er auf der Berlinale 2013 sowohl den Preis der Kritiker-Jury (Fipresci) als auch den Caligari-Filmpreis des Forums gewonnen: „Hélio Oiticica“.
Nach einigen Versuchen mit Patchworkausstellungen quer durchs Haus hat der Museumskurator Peter Gorschlüter die oberste von drei Etagen des fantastischen Holleinmuseums freigeräumt. Was für ein Bau, das MMK, wahrscheinlich das raffinierteste moderne Museum der ganzen Welt, mit seinen angeschrägten Sälen, Engführungen, Abseiten, Balkonen, Treppen, dem Atrium – eine rhythmische Einheit mit einem Hang zum Labyrinth. Also kein Wunder, dass die beispielhafte Retrospektive des Brasilianers, im Untertitel „Das große Labyrinth“, da ziemlich gut hineinpasst.
Interessant auch, dass das Haus einem nicht vorschreibt, wie herum man die Ausstellung anzusehen hat: Nimmt man die große Treppe hinter dem Atrium, kommt man im gebastelten, konstruktivistischen Frühwerk heraus, rot bemalte hölzerne Winkelskulpturen, die von der Decke hängen und dergleichen todernste Spielereien.
Nimmt man den Fahrstuhl, trägt dieser einen direkt zu einem mit Seesand ausgelegten Saal, in dem Zelte, Kabinette und Minibaracken von einer theoretischen Zivilisation künden, die nur durch den Gebrauch transformiert werden kann in etwas Lebendiges. Gleich daneben, ebenfalls eine Art Strand, begaffen zwei lebende grüne Wellensittiche aus ihrer Voliere einen mit Topfpflanzen ausgestatteten Parcours, dessen Kernstück einen wieder in eine Hütte hineinwickelt, in deren winzigem Kern, dem Allerheiligsten, ein Fernseher vor sich hin schreit mit dem typischen deutschen Standardkanal. Eine Installation von 1967, „Tropicália“, mit einem kleinen Kunstgriff auf den neuesten Stand gebracht. Das hätte selbst Olaf Metzel nicht viel besser hingekriegt.
Unbefangene Frische, experimentelles Basteln
Wer bei lateinamerikanischer Kunst an Frida Kahlo denkt, wird überrascht sein, wie stark Mondrian und Schwitters noch in den Sechzigern präsent sind. Oder mit welch unbefangener Frische experimentell gebastelt wird. Wie sehr hier einer im kleinsten Detail Metaphern findet und doch furchtlos weiterschreitet zum szenischen Ganzen.
Da ist natürlich Oiticica nicht allein, er ist eingebunden in einen Zirkel suchender Künstler, die sich dem „Konkreten“ verschreiben, bevor das Militär sie in die Konfrontation treibt. Man spürt in so einem Werk den Wind der Zeit, die Zuschauerkunst von Lygia Clark, die „kinetische“ Erfahrung des Raums durch Jesús Rafael Soto, die dekonstruktive Intervention Matta-Clarks. In eine progressive Ausstellung wie „When Attitudes Become Form“ (Szeemann 1969) hätte jemand wie Oiticica wunderbar reingepasst. Oder auf heute bezogen: Die gesteigerte Bildlichkeit von Gabriel Orozcos sinnlichem und sinnfälligem Werk wäre ohne diese Vorgeschichte nicht entstanden. Ganz basal gesprochen: Die südamerikanische Kunst ist in Europa grotesk unterbewertet.
Wer auf die Frankfurter Buchmesse kommt und sich einen Innenstadtbesuch nicht leisten kann, sollte mal gerade durch das Westend spazieren zum Palmengarten, wo zwei Freilichtskulpturen Oiticicas aufgebaut worden sind.
Eine Gruppe weißer Segel, unbescheiden betitelt „Die Erfindung des Lichts“, beglückt auf der tiefgrünen Liegewiese die Besucher, vor allem die Dreijährigen, die sich in die weißen Segel stürzen lassen, laut lachend beflügelt von ihrem eigenen Mut und von der anderen Seite als Abstraktion des menschlichen Antlitzes bestaunt.
Die andere Arbeit, „Penetrável“, hat Oiticica selbst nie gesehen, es gab davon zu seinen Lebzeiten nur einen Modellentwurf. Es handelt sich um einen weißen, durch viele Türen zu begehenden Pavillon, der auf das Labyrinth anspielt, aber es locker variiert. Zwei zentrale Räume sind wieder durch Schichten weißer Gaze getrennt; der Raum, in dem man gerade nicht ist, erscheint dann als Bild. Palmenzweige verrotten auf dem Boden des abstrakten Baus, und schon ist man traumhaft hinübergezogen in die traurigen Tropen. Das Erstaunlichste an diesem Werk ist, dass seine Melancholie nicht schwarz erscheint, sondern weiß.
■ Bis 12. Januar, Museum für Moderne Kunst Frankfurt , Katalog (Hatje Cantz) 39,80 Euro