: Die öffentlichen Intimitäten der eitlen Dame
SUSAN SONTAG Ein Blick auf die Geschichte des Archivs von Susan Sontags Schriften anlässlich der Veröffentlichung ihrer Tagebücher
VON TANJA SCHWARZENBACH
Susan Sontags Leben ist in 331 Boxen einsortiert. In einem schlichten Flachbau auf dem Campus der University of California in Los Angeles, im Untergeschoss der Bibliothek. Keinen Stift darf man mit in das Archiv nehmen, das dort untergebracht ist, kein eigenes Blatt Papier, um ja nichts unterzumogeln, oder auf historisch wertvollen Seiten herumzukrakeln. Doch blättern ist erlaubt in den Tagebüchern der New Yorker Intellektuellen, in ihren Notizblöcken, zwischen Zetteln, Kinokarten und Einladungen zu kramen, wie ein Voyeur das Leben einer Frau zu inspizieren, die ihre Gedanken zwar gerne mit der Öffentlichkeit teilte, ihr Privatleben aber für sich behielt.
Obwohl Susan Sontag, die 2004 an Krebs starb, in den USA und Europa sehr populär war, ihre Essaysammlungen in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden, sie den National Book Award und den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen bekam, sie überhaupt öffentlich sehr präsent war, schlug sie sich finanziell gerade so durch. Für den Verkauf ihres Archivs aber, für ihre Tagebücher, Manuskripte, private Korrespondenz und ihre 20.000 Bücher umfassende Privatbibliothek an die University of California, erhielt sie im Jahr 2002 angeblich 1,1 Millionen Dollar – nur der amerikanische Beat-Poet Allen Ginsberg hatte mit dem Verkauf seiner Manuskripte an die Stanford-Universität zu Lebzeiten eine ähnliche Summe herausschlagen können. Sontag machte keinen Hehl daraus, dass dieser Geldsegen durchaus willkommen sei, fügte aber hinzu, dass ihr New Yorker Apartment aus allen Nähten platze und Los Angeles ein passender Ort für das Archiv sei, da sie dort ihre Jugend verbracht habe. Bis auf wenige Briefe belegte sie den Nachlass mit keinerlei Restriktionen. Sie überließ ihr Leben einer Bibliothek. Und die Gewissensfragen nach ihrem Tod dem Sohn.
David Rieff, der ein sehr enges Verhältnis zu seiner Mutter Susan Sontag hatte, entschloss sich dazu, die Tagebücher selbst herauszugeben, bevor es ein anderer tun würde. Der erste Teil ist nun auf Deutsch erschienen: „Susan Sontag: Wiedergeboren. Tagebücher 1947–1963“. Wäre Susan Sontag mit der Veröffentlichung einverstanden gewesen, fragt sich Rieff in seinem Vorwort zu „Wiedergeboren“? Ein enger Freund Sontags sagt bei einem Treffen in Los Angeles, dass Sontag zumindest nicht gewollt hätte, dass ein Fremder in dem Archiv stöbere. Sie selbst aber, schreibt Rieff, habe „sowohl als Leserin als auch als Schriftstellerin Tagebücher und Briefe“ geliebt – „je intimer, desto besser.“ Dass die Tagebücher dazu bestimmt waren gelesen zu werden, macht Sontag in einem Eintrag von 1957 deutlich: „Eine der wichtigsten (sozialen) Funktionen eines Tagebuchs besteht genau darin, heimlich von anderen Leuten gelesen zu werden, von den Leuten (wie Eltern + Geliebte), über die man sich nur in seinem Tagebuch mit grausamer Ehrlichkeit geäußert hat.“
Doch waren die Tagebücher auch für die Öffentlichkeit bestimmt? War es reine Geldnot, die sie zum Verkauf getrieben hatte? Die Vermutung liegt nahe, dass Sontag einen anderen Beweggrund hatte, ein größeres Motiv als jenes des Geldes. Schon andere Schriftsteller vor ihr hatten ihre Tagebücher der Nachwelt hinterlassen – Ralph Waldo Emerson, dessen Tagebücher sie in ihren eigenen erwähnt. Oder Thomas Mann, ihr literarisches Idol, dem sie als Jugendliche einen Besuch abgestattet hatte. In seinen Tagebüchern enthüllte Mann, allerdings erst zwei Jahrzehnte nach seinem Tod, homosexuelle Neigungen. Sontag wollte selbst immer lieber Schriftstellerin als Essayistin sein – sie wollte zu der Riege bedeutsamer Literaten gehören. Möglicherweise steht ihr Nachlass genau für diesen Wunsch. Dann wäre er auch für die Öffentlichkeit bestimmt.
Es war diese Öffentlichkeit, die sie sich zu Lebzeiten zunutze machte, um das Image einer Public Intellectual aufzubauen. In den europäischen Medien wurde Sontag gerne gelobt und bewundert, aber sie hatte Eigenschaften, auf denen amerikanische Journalisten im anderen Extrem herumritten – ihr Ehrgeiz war nur eine davon. Sie hatte in den USA auch das Image der „La Sontag“, der großen eitlen Dame, die hofiert werden wollte und andere schon mal herablassend behandelte – auch ihre eigene Lebensgefährtin Annie Leibovitz, wie der Freund Sontags in Los Angeles erzählt: „Wenn Susan intellektuelle Gespräche führte und Annie dabei war, schloss sie sie von dem Gespräch mit den Worten aus, ‚davon versteht Annie nichts‘.“
Sontag war schon früh davon überzeugt, etwas Besonderes zu sein. In „Wiedergeboren“ wird klar, dass sie in der Tat alles andere als ein gewöhnlicher Teenager war. Sie war wissbegierig, analytisch und überdurchschnittlich intelligent. Sie rebellierte gegen das Mittelklasseleben ihrer Eltern, liebte Frauen und heiratete dann doch mit nur 17 Jahren einen Mann, Philip Rieff, Soziologieprofessor. In einem Tagebucheintrag vom 3. Januar 1951 schreibt sie dazu: „Ich heirate Philip im vollen + beklemmenden Bewusstsein meines Drangs zur Selbstzerstörung.“ Doch Susan Sontag zerstörte sich nicht selbst, sie fand ganz im Gegenteil zu sich: Sie ließ sich scheiden und ging mit ihrem Sohn nach New York, wo ihr mit ihrem Essay „Notes on Camp“ in den 1960er-Jahren der Durchbruch als Intellektuelle gelang.
Die veröffentlichten Tagebücher sind manchmal kryptisch, dann wieder detailliert und sehr intim. Es wäre ihm lieber gewesen, schreibt David Rieff, er hätte einiges nicht erfahren.
In dem Archiv nun, auf dem Campus der University of California, kann jeder im Leben der Susan Sontag wühlen. Sich durch Gedankenfetzen tasten oder versuchen, Fotos zu verstehen: In einer Box aus den Jahren 1988/89 ist Sontag auf Bildern in freundschaftlicher Umarmung mit Frauen zu sehen, nur auf einem mit Annie Leibovitz, aufgenommen auf dem Markusplatz in Venedig, posiert Sontag steif neben ihrer Lebensgefährtin. Es wurde Sontag oft vorgeworfen, nicht öffentlich zu ihrer Homosexualität zu stehen. Am Ende aber tat sie es doch.
■ Susan Sontag: „Wiedergeboren. Tagebücher 1947–1963.“ Carl Hanser, München 2010. 384 Seiten, 24,90 Euro