: Lehrmeister Tschernobyl
Der systematischen Desinformationspolitik nach der Reaktorkatastrophe setztedie Bevölkerung erst Misstrauen, dann eigene unabhängige Netzwerke entgegen
Die Katastrophe von Tschernobyl steht in der deutschen Nachkriegsgeschichte für einen politischen wie moralischen Wendepunkt. Zwar hatte die Bewegung gegen die Atomkraftwerke seit ihren Anfängen in den frühen 70er-Jahren hunderttausende von Aktivisten mobilisiert, die Staatsmacht in Großdemonstrationen herausgefordert und die Ideologen der Atomlobby in die Defensive gedrängt. Aber erst Tschernobyl führte dazu, dass in der deutschen Gesellschaft massenhaft Selbstverständigungsprozesse abliefen, an deren Ende ein neues, mehrheitlich geteiltes Wertebewusstsein stand.
Bis Tschernobyl galt in weiten Kreisen der Öffentlichkeit die kritische Haltung gegenüber der Atomkraft als Ausdruck eines unbegründeten Alarmismus, wenn nicht sogar als Neuauflage jener apokalyptischen Weltuntergangsvisionen, die Europa seit dem Mittelalter zyklisch heimgesucht hätten. Ähnlich wie bei den frühen Warnrufen anlässlich des sich abzeichnenden Treibhauseffekts und des Waldsterbens wurde die Auseinandersetzung von den „Weiter so!“-Propagandisten kunstvoll verschoben. Nicht um harte Fakten und nachweisbare Gefahrenlagen sollte es gehen, sondern ums Gemüt, ums deutsche zumal, wo die Liebe zum Wald und zur Natur den notwendigen technischen Fortschritt behinderte. Diagnostiziert wurde bei den Ökologen und Anti-AKWlern ein romantisches, rückwärts gewandtes Syndrom, latente Technikfeindlichkeit, ein mystisches Verhältnis zur Natur, der man sich ein- und unterordnen müsse, anstatt sie zu beherrschen. Angeblich weil der schiere Begriff des Atoms Ängste vor nicht beherrschbaren Prozessen evoziere, versuchte man sogar, statt „Atom“ den Begriff des „Kerns“ durchzusetzen, sodass statt AKWs die allein gültige Lesart KKWs sein sollte.
Noch die ersten politischen Reaktionen auf die Katastrophe versuchten, an diesem eingespielten Schema festzuhalten. Dies geschah auf zweierlei Weise: erstens durch Verharmlosung der tatsächlichen Katastrophenfolgen, also des Fallouts über Europa. Willkürlich wurden Grenzwerte erweitert oder falsch angesetzt, Informationen verschwiegen, wurde vor hysterischen Reaktionen gewarnt. Andererseits beschwor man die Sicherheit der deutschen AKWs. Deren im Verhältnis zu den sowjetischen Kraftwerken fortgeschrittene Standards sowie die Ausbildung des eingesetzten Personals schließe aus, dass sich bei uns eine vergleichbare Katastrophe jemals ereignen könne. Aber diese Doppeltaktik – Ruhe bewahren und deutscher Technik vertrauen – scheiterte vollkommen, ja, bewirkte das Gegenteil des beabsichtigten Effekts.
Denn die Bevölkerung reagierte auf die behördlichen wie offiziell-politischen Abwieglungsmanöver zuerst mit durchgängigem Misstrauen, dann aber, als das Lügengespinst offenbar wurde, mit einer Becquerel-Messungsgegeninitiative.
Nicht Massenhysterie war die Folge der Desinformation, sondern eine massenhafte Aufklärungskampagne, von den potenziellen Opfern der Strahlung selbst unternommen. Auch in der Anti-AKW-Bewegung hatte es diese von fortschrittlichen Wissenschaftlern wie Jens Scheer gestützte Verbreitung von Daten, Messwerten und technischen Funktionsweisen gegeben, im Gefolge dieser Bewegung hatten sich die ersten unabhängig-kritischen Institute etabliert. Jetzt aber wurde das Wissensmonopol der Atomlobby auf breiter Grundlage durchbrochen. Spezialisiertes Wissen wurde vergesellschaftet – nicht nur hinsichtlich möglicher Unfälle in den AKWs, sondern des gesamten Strahlungskomplexes.
Dabei wandelte sich die bislang in der Gesellschaft vorherrschende Auffassung von Verantwortlichkeit. In den Fokus gerieten rasch die möglichen Folgen der Katastrophe für Kinder und Kindeskinder. Bislang fühlte man Verantwortung, sei es für familiäre, lokale oder weltweite Entwicklungen, im Wesentlichen innerhalb eines festen Zeithorizonts, dem der eigenen Generation. Diese Auffassung hatte mit der Diskussion über die atomaren Endlager, sprich über die Halbwertszeit, bereits erste Risse erhalten. Jetzt, nach der Katastrophe, gewann die Auffassung an Gewicht, dass politische Entscheidungen niemals getroffen werden dürften, wenn sie eine Bindungswirkung für eine unabsehbare Kette von Generationen nach sich zögen. Wer so dachte, konnte sich mit dem Vierjahreszeithorizont einer Politik, die niemals das Ende bedachte, nicht mehr abfinden. In dem Slogan „Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geborgt“ fand dieser Einstellungswandel einen weit über das grüne Milieu hinausgehenden sinnfälligen Ausdruck.
Günther Anders, der den zweiten Band seiner „Antiquiertheit des Menschen“ schon 1980 veröffentlicht hatte, bezeichnete dort als fixe Idee der Dritten Industriellen Revolution, dass „das Mögliche durchweg als das Verbindliche, das Gekonnte durchweg als das Gewollte akzeptiert wird“. Und dass „jede dem Gemachten zugedachte Verwendung auch wirklich durchgeführt werden soll“. Hatte die Katastrophe von Tschernobyl nicht vor Augen geführt, dass bestimmte Formen der Wissenschafts- und Technikentwicklung sich als destruktiv herausgestellt hatten? Sodass auch die innerhalb der Linken weit verbreitete These, die Produktivkräfte müssten nur aus der Fessel der kapitalistischen Produktionsweise befreit werden, um ihr inhärentes Potenzial zu entfalten, als einseitig, als Fetischisierung des Fortschritts kritisiert werden musste.
Nach Tschernobyl verallgemeinerte sich auch die Sorge angesichts der möglichen Entwicklung eines Staatsapparats, der zwecks Sicherung der atomaren Technologie zu immer avancierteren Formen der Überwachung und Kontrolle greifen würde. Die Vorstellung vom drohenden „Atomstaat“ wurde geläufig. Es war diese Vorstellung, die der Kampagne zum Boykott der Volkszählung zusätzlichen Schwung verlieh und die das Datensammeln seines scheinbar unpolitischen, nur statistischen Gewands entkleidete.
Empirische Untersuchungen belegen, dass nach Tschernobyl bis auf den heutigen Tag die Bevölkerungsmehrheit in Deutschland für die Abschaltung aller AKWs eintritt. Man kann diesen Entscheid nur auf der Basis veränderter Wertorientierungen interpretieren, die die ethischen wie die politischen Folgen der Technikentwicklung mitbedenken und den Entscheid darüber nicht dem Urteil der Expertokratie überlassen. Dieser Wandel der Wertorientierungen trat wieder bei den jüngsten Debatten über die Grenzen der Stammzellenforschung zutage. Große Teile der öffentlichen Meinung verschlossen sich dem Argument der Pharmaindustrie, vermittels dieser neuen Gentechniken könnten Medikamente für bislang unheilbare Krankheiten entwickelt werden. Da einmal gefasste Wertorientierungen ein zähes Leben haben, steht dem Versuch, zwanzig Jahre nach Tschernobyl den Atomausstieg mit politischen und ökonomischen Gründen rückgängig zu machen, ein hartes Stück Arbeit bevor. CHRISTIAN SEMLER