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Archiv-Artikel

Die Angst vor dem Wochenende

GEWALT Nachdem in Holland ein Schiedsrichter totgeprügelt wurde, war das Aufsehen groß. Auch in Deutschland gehören immer brutalere Angriffe auf Unparteiische zum Alltag. Die Betroffenen fühlen sich ohnmächtig

VON DIRK A. LEIBFRIED

Jan ist einer der jüngsten Fußball-Schiedsrichter Deutschlands. Denn mit seinen zwölf Jahren darf man frühstens die Prüfung ablegen, die einen berechtigt, Spiele zu leiten. An diesem Herbstwochenende in der pfälzischen Provinz pfeift er die Partie der gleichaltrigen D-Junioren im Donnersbergkreis zwischen Dreisen und Zellertal. Die Begegnung geht in die entscheidende Phase. Zwei Minuten vor Spielende entscheidet Jan auf Strafstoß für Zellertal. Tumulte sind die Folge.

Der Trainer aus Dreisen kann sich kaum noch beruhigen, ist stinksauer über den „Dreck“, den der junge Referee pfeift. Nachdem dieser hinter die Bande verwiesen wurde, geht es weiter: „Du bekommst keinen Pfennig von mir, du Drecksack!“ Die Konsequenz für den Übungsleiter: 25 Euro Geldstrafe.

Pfeifen ist Jans Leidenschaft. Sein Vater, selbst Schiedsrichter, unterstützt ihn, fährt ihn zu seinen Einsätzen und gibt ihm nach dem Spiel wertvolle Tipps. Doch an diesem Tag ist nichts wie vorher. Denn der Spießrutenlauf geht nach dem Spiel weiter. Im Kabinengang kommt ein Spieler der unterlegenen Mannschaft wutschnaubend auf ihn zu: „Du Hurensohn, lern du erst einmal die Regeln, bevor du pfeifst.“ Das Wort „Missgeburt“ versetzt Jan endgültig einen Schlag in die Magengrube. Sonderbericht.

Der Vater von Jan ist frustriert. Der hiesige Landesverband hat das „Jahr des Schiedsrichters“ ausgerufen. Eine offenbar nutzlose symbolische Geste. „Es wird immer schlimmer, von oben müssen auch mal entsprechende Signale kommen“, fordert Jans Vater. Doch die Fußballsportgerichtsbarkeit ist nicht bekannt für besonders drakonische Strafen. Auch der aggressive Nachwuchskicker darf trotz seiner verbalen Entgleisung am nächsten Wochenende spielen. Vom Staffelleiter gab es lediglich einen Verweis.

Als im Dezember 2012 in Holland ein Schiedsrichterassistent von sechs Jugendspielern und einem Spielervater zu Tode geprügelt wurde, war die Fußballszene geschockt. In Berlin dachten viele damals an einen Vorfall zurück, der sich ein gutes Jahr davor praktisch vor der eigenen Haustür abgespielt hatte: Schiedsrichter Gerald Bothe wurde in einem Altherrenspiel von einem Akteur des Tempelhofer Vereins TSV Helgoland niedergeschlagen. Der Unparteiische ging bewusstlos zu Boden und verschluckte seine Zunge. Die Lage war lebensbedrohlich. Ein Spieler der gegnerischen Mannschaft, ein ausgebildeter Rettungssanitäter, erkannte den Ernst der Lage und griff ein. Im Gegensatz zu seinem holländischen Schiedsrichterkollegen überlebt Bothe den tätlichen Angriff.

123 Partien wurden bestreikt

Einige Schiedsrichter in Berlin riefen nach diesem Vorfall zum Streik auf. Letztlich entschied man sich für eine abgeschwächte Form des Protests. Alle Amateurfußballspiele in Berlin wurden für eine kurze Zeit unterbrochen. Wirklich gestreikt wurde im April dieses Jahres in Süddeutschland, nachdem ein Schiedsrichter in einem B-Jugend-Spiel getreten und geschlagen wurde. Der Fußballbezirk Hochrhein, südlich von Freiburg gelegen, beklagte bereits zuvor vermehrt Angriffe gegen Schiedsrichter. Nach 17 Spielabbrüchen innerhalb weniger Monate kam es zum Aufstand. Die Unparteiischen streikten ein ganzes Wochenende. 123 Partien, von der Bezirksliga bis zu den Junioren, wurden abgesagt.

„Auch früher kam es vor, dass sich der Schiedsrichter mal nach dem Spiel in seiner Kabine eingeschlossen hat“, erinnert sich Markus Merk, dreifacher Weltschiedsrichter, an die Anfänge seiner Karriere. Doch er ist der Ansicht, dass – parallel zur gesellschaftlichen Entwicklung – die Gewalt eine andere Qualität erreicht hat.

Zurück in die pfälzische Provinz. Am selben Wochenende, als das Kindesspiel unter Leitung des Jungschiedsrichters Jan eskalierte, pfeift ein 23-jähriger Unparteiischer die Partie der C-Klasse Pirmasens/Zweibrücken West, Winterbach gegen den VfL Wallhalben. Er hat Bezirksliga-Erfahrung – eine Routineangelegenheit also. In der 65. Minute, es steht 2:2, wird es ungemütlich: ein Pressschlag im Mittelfeld, ein verletzter Spieler und ein meckernder Akteur aus Wallhalben. Der Unparteiische zückt Gelb-Rot – die Sache scheint damit erledigt. Doch ein Zuschauer des Gastvereins stürmt just in diesem Moment auf das Feld, erhebt seinen Regenschirm und schreit: „Ich schlag dir den Schirm in die Fresse und hau dir alle Zähne raus!“ Noch bevor der Spielführer einen Platzordner auffordern kann, den renitenten Senior des Geländes zu verweisen, rennt dieser erneut auf den Schiedsrichter zu: „Ich hau dir eine rein, du Arschloch!“

Am Ende müssen mehrere Zuschauer den aggressiven Rentner beruhigen und vom Platz führen. Der Schiedsrichter schickt die Mannschaften für fünf Minuten in die Kabine. Nachdem sich die Gemüter beruhigt haben, wird das Spiel fortgesetzt. Im Urteil wird es später heißen: „Das Einzelmitglied wird mit einer Geldstrafe in Höhe von 75 Euro zu Lasten seines Vereins belegt.“ Sonstige Konsequenzen? Fehlanzeige.

Faustschlag gegen den Schiedsrichter

Auf dem Fußballplatz der Winzergemeinde Ruppertsberg läuft es an diesem Wochenende weniger glimpflich ab. Die Atmosphäre im Spiel der B-Klasse Rhein-Mittelhaardt West ist äußerst giftig. Zuschauer der Gastmannschaft aus Burrweiler randalieren und greifen den 67-jährigen Schiedsrichter an. Er wird von einem Faustschlag getroffen, wie Zuschauer bezeugen. Logische Konsequenz der gewalttätigen Tumulte: Spielabbruch in der 70. Minute. Das Spiel wird später für beide Mannschaften als verloren gewertet.

Der Obmann der benachbarten Kreisschiedsrichtervereinigung, aus der der Unparteiische rekrutiert wurde, will ein Zeichen setzen und die Spiele der beiden Mannschaften nicht mehr mit seinen Leuten besetzen. Doch der Verband und der Fußballkreis müssen die Leitung der Spiele sicherstellen. Die Lösung: Schiedsrichter aus anderen Kreisen. Zur Mäßigung der prügelbereiten Zuschauer aus Burrweiler wird das vermutlich nicht führen. Ein hochrangiger Schiedsrichter-Funktionär im Kreis äußert sich frustriert über die Entwicklung: „Auf den Plätzen herrscht Wildwest-Stimmung mit rauchenden Colts, aber von Verbandsseite aus werden wir regelmäßig im Stich gelassen.“

Markus Merk, als Vater eines 14-jährigen Jugendspielers mittlerweile selbst „engagiert an der Außenlinie“, will die Verantwortung aber nicht nur an die Verbände abschieben: „Jeder in unserer Gesellschaft sollte mit Zivilcourage einschreiten, wenn es zu Fehlentwicklungen kommt.“ Konkret heißt das: Wer sich auf dem Fußballplatz danebenbenimmt, sollte von den anderen Zuschauern und dem Verein in die Schranken gewiesen werden. „Wir alle sind aufgefordert, mehr Verantwortung zu übernehmen.“ Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) wollte auf taz-Anfrage übrigens keine Stellungnahme zu dieser Thematik abgeben.

Knapp 75.000 Schiedsrichter gibt es in Deutschland, „für mich die wahren Helden des Fußballs“, sagt Markus Merk. Sie sind Regelhüter – zumeist aber die Prügelknaben von Menschen mit einer immer geringeren Frustrationstoleranz. Der Fußball führt kein Eigenleben in dieser Gesellschaft. Wie ein Seismograf zeichnet er die Erschütterungen dieser auf. Jedes Wochenende wieder. Auf Asche und auf Rasen. Und das nicht nur in Brennpunktmetropolen wie Berlin, sondern auch in Dreisen, Winterbach und Burrweiler, irgendwo in der pfälzischen Provinz.