: Auf der Suche nach dem Happy End
AUS BOCHUM HENK RAIJER
Am Set ist Annie der Boss. „Nicht immer in die Kamera gucken“, ruft die 13-Jährige ihrer Hauptdarstellerin zu, die nun schon den dritten Take in den Sand setzt. „Und langsamer gehen“, weist das Mädchen mit dem dichten krausen Haar, das beim heutigen Dreh Regie führt, ihren Star an. „Du bist hungrig, trödelst, willst nicht in die Schule“, erinnert sie die 14-jährige Angela an ihren Part im Drehbuch. Das handelt von den verschiedenen Lebenswelten zweier Hauptschülerinnen aus Dortmund. Kopf schüttelnd schraubt Annie das Stativ herunter und wechselt ein letztes Mal ihren Standort. Sie will Angelas Auftritt von der Seite einfangen und die Filmsequenz mit einer Totalen vom Schulgebäude beenden. Einer aus dem Team schafft schnell noch die „Schleichwerbung“, einen Pappbecher mit McDonald‘s-Emblem, aus dem Weg.
„Way to School“ nennt sich Annies Sechzig-Sekunden-Video. Die Location: Vorplatz der Technischen Beruflichen Schule am Bochumer Hauptbahnhof. Am Set: (Neben einigen Statisten) die Schülerinnen Annie Tarrach (Kamera und Regie), Angela Mewes (armes Mädchen) und Claudia Banasiak (reiches Mädchen) sowie José Biscaya (Training und Beratung) vom Sandberg Institut aus Amsterdam.
Am zweiten Drehtag des Videoworkshops „Kinder filmen Armut in Deutschland“ ist der Frühling ausgebrochen, an die veränderten Lichtverhältnisse muss sich Jungregisseurin Annie erst gewöhnen. Unter José Biscayas einfühlsamer Führung jedoch ist die Sache bald im Kasten. „Uns geht es um die Geschichten, die die Kinder erzählen. Für die Filmarbeit ist ja der Workshop da“, sagt der 32-jährige Medienkünstler, unter dessen Leitung Annie, Claudia und Angela am Ende eines mehrtägigen Workshops ihre Beobachtungen zum Thema Kinderarmut in einem einminütigen Videofilm zum Ausdruck bringen werden.
„Krass wahr, Alter!“
„OneMinutesJr“ nennt sich das internationale Projekt, das vom Amsterdamer Sandberg Institut ins Leben gerufen wurde und das UNICEF Deutschland in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kinderschutzbund und der Europäischen Kulturstiftung in diesem Frühjahr nach Bochum geholt hat. 17 Jugendliche im Alter zwischen 13 und 17 Jahren aus Bochum, Dortmund, Essen und Herne schreiben, drehen und produzieren unter Anleitung erfahrener „Video Artists“ in vier Tagen persönliche Videobotschaften, die bei einer Konferenz unter dem Motto „Deutschland für Kinder“ im Sommer in Berlin zu sehen sein werden. „Niemand kann besser sichtbar machen, was Armut für Kinder bedeutet, als Kinder selbst“, sagt UNICEF-Mitarbeiter Chris Schüpp, der das Projekt leitet und an diesem Nachmittag in einem Bochumer Studio seiner Gruppe am Schneidetisch erklärt, wie sie Video- und Audiospuren getrennt bearbeiten können.
„Krass wahr, Alter!“ und „One Way Ticket“ heißen die jeweiligen Beiträge der Brüder Junusov aus Herne, die vor vier Jahren mit ihrer Familie aus Tschetschenien geflüchtet sind und noch heute im Container leben. Ersterer handelt von der Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher in Deutschland, „One way Ticket“ erzählt die Fluchtgeschichte einer Familie, der für das Ticket des jüngsten Kindes das Geld fehlt und die den Jungen deshalb in einen Koffer versteckt.
„Ein Superschuss die Treppe rauf“, lobt Schüpp (34) den 17-jährigen Magomed, während er mit zusammen gekniffenen Augen auf einen der beiden Bildschirme vor ihm starrt und die Pausentaste drückt. „Die Szene mit dem Jungen im Koffer müssen wir aber noch mal drehen“, erklärt er hingegen dem 15-jährigen Abubakar, während er sich zufrieden in seinem Regiestuhl zurücklehnt. „Die beiden können eine Menge zum Thema Armut erzählen“, sagt Schüpp und schiebt sich das strahlend weiße Käppi mit dem blauen UNICEF-Emblem in den Nacken.
Ausgewählt wurden die 17 jungen Filmemacher aus dem Ruhrgebiet vom Deutschen Kinderschutzbund. SchulleiterInnen und Jugendzentren dienten den Ortsverbänden der Organisation als Multiplikatoren bei der Bekanntgabe des Wettbewerbs um die Plätze im Team. Zwar handele es sich bei den Kindern und Jugendlichen, die sich zum Workshop in Bochum eingefunden hätten, um eine „bunte Mischung aus Gymnasiasten und Hauptschülern, aus Deutschen und Immigranten“, erklärt Friedhelm Güthoff, Geschäftsführer des NRW-Landesverbandes des Deutschen Kinderschutzbundes. Dennoch kämen die meisten Jungen und Mädchen „aus Stadtteilen mit Erneuerungsbedarf“ und hätten in aller Regel „direkte Berührungspunkte mit dem Thema Armut“. Jedenfalls hätten sie „was ganz Besonderes hingekriegt“, ist Güthoff begeistert vom Ergebnis des UNICEF-Workshops, an dem der Kinderschutzbund erstmalig mitgewirkt hat. „In den Filmbeiträgen stecken Botschaften an die Erwachsenen“, so Güthoff. „Wir sollten das als Frühwarnsystem Ernst nehmen und zuhören, was uns die Kinder sagen wollen, wenn sie die Schule schwänzen oder auf der Straße leben.“
Obwohl Annie, Claudia und Angela wie die anderen Armsein nur mit Obdachlosen und „Pennern“ in Verbindung bringen, ist Armut und soziale Ausgrenzung Alltag für fast zwei Millionen deutsche Kinder und Jugendliche. Jedes zehnte Kind ist in Deutschland nach Schätzungen des Kinderschutzbundes von Armut betroffen. Es trifft vor allem Kinder von allein erziehenden Eltern und aus Zuwandererfamilien. Dabei wiege besonders schwer, dass die Kinder von guter Bildung abgekoppelt werden. Kinder, die in sozialen Brennpunkten und unter beengten Wohnverhältnissen aufwachsen, haben Schwierigkeiten, dem Unterricht zu folgen und brechen oftmals früh ab. Hinzu kommen mangelhafte Ernährung, gesundheitliche Probleme sowie Alkohol- und Drogenkonsum.
„Drei Viertel der Kids hier beim Dreh sind arm.“ Chris Schüpp, der nach einigen Jahren als Lokalreporter im Ruhrgebiet Kinderradio in Kirgisien organisiert hat und seit 2002 für UNICEF Workshops in Ungarn, Bulgarien oder auf den Malediven betreut, ist „immer wieder erstaunt, was am Ende eines Projekts mit benachteiligten Jugendlichen herauskommt. Wichtig ist, dass wir von UNICEF lernen, was die wirklich fühlen“, sagt Schüpp. Und: „Wenn einige am Ende subjektiv das Gefühl haben, nichts gelernt zu haben, ist das auch völlig o.k“, meint der Projektkoordinator. „Hauptsache ist doch, dass sie stolz darauf sind, gemeinsam etwas geschafft zu haben.“
Claudia, Angela und Annie sind mächtig stolz auf das, was ihnen ihr Trainer am späten Nachmittag am Laptop als Zwischenergebnis präsentiert – Annie auf ihre Kameraführung, Claudia und Angela auf ihre Schauspielkünste; zu gerne würden beide mal bei einer KI.KA-Sendung wie „Rosas Leben“ mitmachen. Zunächst aber fordern die Teenager José Biscaya auf, endlich was zu essen zu besorgen. „Aber diesmal was Richtiges“, ruft Angela dem schlanken Mann mit dem schwarzen Lockenkopf nach und stöhnt: „Hier gibt‘s ständig nur Fastfood.“
„Das ist echt!“
So verschieden die Themen der „OneMinutes“-Filme bei diesem Workshop sind, so ähnlich sind die Botschaften. Sie alle eint der Wunsch, eine schwierige Situation kollektiv zu meistern und dass jemand auftauchen möge, der hilft in der Not. So nimmt in der Schlusssequenz von „Way to School“ Claudia das arme Mädchen Angela an die Hand und zieht es mit in die Schule. Am Besten gefällt den Dreien aber die Szene im U-Bahnhof, wo beide Mädchen in der Früh ihren Schulweg antreten. „Sieht doch voll echt aus, oder?“ ruft Claudia begeistert aus. Worauf Annie, schon ganz der coole Profi, nur trocken erwidert: „Das ist echt!“
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