: Ideologie in Zeiten inflationärer Großkoalitionen
Irgendwann führte ich ein Interview mit Paul Krugman, und wenige Monate später erhielt er den Wirtschaftsnobelpreis. Robert Shiller habe ich mehrmals interviewt und zu zwei Veranstaltungen nach Wien eingeflogen, und jetzt hat auch er den Nobelpreis bekommen. Ich sollte das zu meinem neuen Hobby machen: Nobelpreisträger sammeln. Es hebt womöglich meine Reputation im Milieu der Spitzenökonomen, wenn sich erst einmal herumgesprochen hat, dass ich Glück bringe.
Wobei die Auswahl der Nobelpreisjury heuer schon richtig putzig war. Es ist ohnehin ein bekanntes Aperçu, dass die Wirtschaftswissenschaft jene Disziplin ist, in der „jedes Jahr das Gegenteil dessen richtig ist, was vergangenes Jahr richtig war“.
Was bisher hieß: In der einen Epoche bekam die eine Denkschule alle Preise, in der darauf folgenden die andere, die bewies, dass die vorangegangene Denkschule falsch gelegen hatte – nur damit später wieder die ursprüngliche Denkschule zum Zug kam. Wirtschaftswissenschaft ist eben keine exakte Wissenschaft wie etwa die Physik, in der das Gesetz der Schwerkraft, einmal entdeckt, auf eminente Weise richtig ist und bleibt.
Das Putzige an der diesjährigen Nobelpreisentscheidung ist nun, dass die Jury diese zeitliche Sukzession gewissermaßen in den Moment, ins Gegenwärtige verdichtet: Sie hat im Trio der Laureaten zwei Ökonomen ausgezeichnet, die bewiesen haben, dass das Gegenteil von dem richtig ist, was der ebenfalls ausgezeichnete Kollege bewiesen hat. Eugene Fama zählt zu den Vertretern der Effizienzmarkthypothese, die, etwas grob zusammengefasst, von vornherein von der Fantasie ausgeht, dass auch Finanzmärkte effizient und rational funktionieren und, wenn man sie nur weitgehend in Frieden lässt, im Wesentlichen positive Effekte zeitigen. Robert Shiller, der Mann, der den US-Immobilienkrach voraussagte, hat mit seinen Forschungen versucht, das Gegenteil zu zeigen. Ökonomie ist Politik, und falsche Theorien werden dann gefährlich, wenn sie sich mit der falschen Politik verbünden. Oder, wie Shiller das sagt: „Eine wichtige Ursache für die Krise ist auch eine falsche Theorie. Eine Theorie, die annimmt, dass Märkte immer effizient sind und Blasen eigentlich gar nicht entstehen können, kann natürlich auch diese Risiken nicht in den Blick bekommen. Und das hat auch mit der politischen Polarisierung zu tun: dass es eine politische Kraft gab und gibt, die behauptet, dass Märkte perfekt funktionieren.“
Die schwedische Reichsbank, die den Wirtschaftsnobelpreis stiftet, hat diese politische Kraft jetzt also ausgezeichnet – und gleich auch ihr Gegenteil. Das ist echte Milde, ja was sag’ ich, großkoalitionäre Ideologiefreiheit. Da könnte sich der Seehofer-Horst noch eine Scheibe abschneiden, über den gerade im Onlineportal des ORF-Fernsehens zu lesen ist: „Seehofer könnte SPD-Mindestlohn akzeptieren.“ Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, dass ein bayerischer Amigo für 8,50 Euro die Stunde nur die kleine Zehe bewegt.
Der Zufall will es, dass ich in den Tiefen des Archivs gerade wieder über den alten Satz von Gerhard Schröder aus den neunziger Jahren gestolpert bin: „Es gibt nicht linke und rechte Wirtschaftspolitik, sondern nur richtige und falsche.“ Nun ist dieser Satz natürlich wahr und falsch zugleich. Es gibt selbstverständlich linke und rechte Wirtschaftspolitik – die linke ist die richtige und die rechte die falsche. Aber so hat das Schröder damals ja nicht gemeint, und deshalb gab es auch ein Aufjaulen in seiner Partei. Der Satz hieß ja: Lasst die Ideologien hinter euch, lasst uns pragmatisch und sachlich sein, hören wir auf die unpolitischen Experten.
Irgendetwas an diesem Satz, mag er auch von der Geschichte längst verweht sein, ist symptomatisch – auch für die Krise der Demokratie und den Verdruss an der Politik. Und zwar, und das ist eben das Interessante, auf doppelte, auf widersprüchliche, auf geradezu gegensätzliche Weise. Es gibt den Verdruss an der Parteilichkeit, am Ideologischen der Politik, worauf der Satz ja reagiert, indem er sagt: Raus aus den Schützengräben, lasst uns sachlich sein.
Gleichzeitig gibt es aber auch einen Verdruss an der Entleerung des Politischen durch Pragmatismus. Wenn Politik nicht mehr vom Konflikt klarer Alternativen, vom Streit über unterschiedliche Weltanschauungen und Politikpfade handelt, wenn die Bürger und Bürgerinnen also den Eindruck bekommen, es sei ohnehin alles gleich und fundamentale Unterschiede gebe es nicht, dann führt gerade dieser Konsens zu einer Bedrohung der Demokratie.
Oder, wie der amerikanische Historiker Tony Judt einmal schrieb: „Eine Demokratie des permanenten Konsens wird nicht länger eine Demokratie bleiben.“
ROBERT MISIK