DIE GESELLSCHAFTSKRITIK
: Der Turm

WAS SAGT UNS DAS? Am Flughafen der Stadt Minneapolis wird ein Autor und Musiker verhört. Ein Beamter behauptet bei der Befragung, die US-Behörden wüssten alles

Der Turm, der den unkontrollierten Einblick gewährt, ist nicht kontrollierbar

Amerika weiß alles.“ Das bekam Johannes Niederhauser von einem US-Grenzbeamten ins Gesicht gesagt. Der Hobbymusiker und Autor für das Magazin Vice hatte nachgefragt, woher der Beamte bestimmte Informationen über ihn habe. Am Flughafen in Minneapolis wurde er nach eigenen Angaben über mehrere Stunden verhört – und dann nach Europa abgeschoben.

Totale Überwachung hat nicht nur den Auftrag, Daten zu sammeln und auszuwerten. Darüber hinaus sendet ihre Existenz allein auch eine Botschaft: „Amerika weiß alles“. Ob deutsche Sicherheitsbehörden sich nur bescheidener geben oder tatsächlich signifikant weniger wissen, wissen wir nicht.

Johannes Niederhauser hat diese Botschaft verstanden. Er beschreibt, wie ihn seit dem Erlebnis Übelkeit beim Anblick von Uniformierten überkommt, wie Angstschweiß ihn selbst auf einem innereuropäischen Flug plagt.

Der französische Philosoph Michel Foucault griff die Idee des Panopticons, des idealen, weil effizienten Gefängnisses auf und wendet sie als Modell zur Beschreibung der westlichen Gesellschaft an. Die Insassen des Gefängnisses können jederzeit beobachtet werden, ohne zu wissen, ob sie im konkreten Moment im Blick des Wärters sind.

Der sitzt in seinem Turm – oder eben gerade nicht –, und seine Arbeit, die Disziplinierung der Insassen, wird von denen selber erledigt. Aus Angst vor der Überwachung und folgenden Sanktionen bei Regelverletzungen internalisieren sie den Überwacher. Es ist ein perfektes System der permanenten Selbstkontrolle.

Das Ganze funktioniert natürlich nur, wenn beim Insassen ein Bewusstsein für die Überwachung besteht. Er muss wissen, dass da der Turm ist, von dem aus theoretisch alles gesehen wird. Erst dann erfüllt die Sicherheitsarchitektur ihren Zweck. Daher auch das Paradox der Snowden-Enthüllungen: Alles, was sie uns bis jetzt mitgeteilt haben, ist, dass da dieser Turm ist. Willkommen im idealen Gefängnis, das selbst noch den dissidenten Akt der Enthüllung zweckdienlich absorbieren kann.

So stellt sich weniger die Frage danach, wo die öffentliche Empörung über die enthüllte Totalüberwachung bleibt. Vielmehr ist zu klären, ob Menschen ihr Handeln ändern, ob Dinge bereits ungesagt bleiben, aus Sorge, den Apparat für spätere Attacken mit Informationen zu bewaffnen. Solange die geheime Überwachungsmaschinerie zumindest den Eindruck ihrer Totalität vermittelt, ist diese Sorge nicht völlig aus der Luft gegriffen.

Der Turm, der den unkontrollierten Einblick gewährt, ist nicht gesetzlich regulierbar oder demokratisch zu kontrollieren. Er wird, solange er da ist, zu Recht als Bedrohung wahrgenommen und beeinflusst so das Leben der potenziell Überwachten.

DANIEL KRETSCHMAR

Der Text ist eine gekürzte Version, das ganze Essay finden Sie unter www.taz.de/!125772