Monster erforschen

NACHRUF Mit den Worten gerungen: Der Regisseur Dimiter Gotscheff ist in Berlin gestorben

Seine Inszenierungen waren sperrig. Oft durchlitt man sie als Zuschauer. Aber immer spürte man, dass es hier einem Regisseur ums Existenzielle ging: dass hier jemand mit den Worten rang. Um Erkenntnis, um Wahrheit oder auch nur um Eintritt in ein Gedankenuniversum.

Das war manchmal anstrengend. Langweilig war es selten. Denn der Regisseur Dimiter Gotscheff war jemand, der das Theater als pathologisches Institut verstand, in dem man die Monstrositäten der Welt erforschen, ihre Abgründe untersuchen konnte – und darin war er ganz ein Kind des 20. Jahrhunderts. Je größer das Monster, desto ergiebiger seine Analyse: Der Zucker, den der Affe Publikum am liebsten hat, ist das Blut. Sodass Gotscheff auf die großen Monster- und Mörderlieferanten der Welttheaterliteratur zurückgreifen konnte: Shakespeare, Aischylos oder Heiner Müller.

Und weil Gotscheff wusste, dass im Tragischen immer auch der Kern aller Komik steckt, schlug er aus den mörderischen (Welt-)Geschichten immer auch große Slapstickfunken. Seine Schauspieler, allen voran Samuel Finzi, Wolfram Koch, Margit Bendokat und Almut Zilcher, waren auch kongeniale Clowns und Körperspieler, die das Ewige der Stoffmassive, die Gotscheff sich immer wieder vornahm, spielerisch für die Gegenwart durchlässig machten. Und manchmal dem Gelächter preisgaben. Nicht dem der Götter, sondern unserem, derer, die im Zuschauerraum saßen.

Eigentlich wollte der 1943 in Bulgarien geborene Dimiter Gotscheff wie sein Vater, mit dem er Anfang der 1960er Jahre in die DDR gekommen war, Tierarzt werden. Doch nach einer Hospitanz bei dem Regisseur Benno Besson am Deutschen Theater in Berlin wechselte der Student der Veterinärmedizin 1963 das Fach. Vielleicht, weil er begriffen hatte, dass sich die Anatomie der Bestie Mensch auf dem Theater besser untersuchen ließ. Bei Besson hatte Gotscheff auch den Dramatiker Hartmut Lange kennengelernt, der ihn wiederum mit Heiner Müller bekannt gemacht hat. Müller und seine fatalistische Geschichtsphilosophie haben den Marxisten Gotscheff ein Leben lang beschäftigt. Immer wieder hat er dessen Texte inszeniert, sich in sie hineingestürzt, sich an ihnen abgearbeitet, an den Theatern von Hamburg, München und Berlin. Gestern Morgen ist Dimiter Gotscheff in Berlin gestorben. Ein Letzter seiner Art, möchte man sagen.

ESTHER SLEVOGT