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Archiv-Artikel

Schwieriger Einstand

BREMER THEATER Weil die Autorin Dea Loher nicht damit einverstanden war, was Regisseur Alexander Riemenschneider aus ihrem Stück „Unschuld“ gemacht hatte, musste in die zweite Aufführung eine Figur eingefügt werden. Nun hatte die Neufassung ihre Premiere

Die Aufführung wird durch die Figur der Ella holpriger und nur um wenige Aspekte reicher

VON JENS FISCHER

Mit einem kernigen „‘tschuldigung“ nimmt Ella ihren Platz auf der Bühne des Bremer Theaters ein. Es ist die zweite Aufführung von Dea Lohers Stück „Unschuld“. Bei der Premiere des Stücks am 28. September war Ella noch nicht auf der Bühne: Regisseur Alexander Riemenschneider hatte die Figur gestrichen. So ein Eingriff kommt vor im Theater. Aber dass eine erst gestrichene Figur in einer Folgeaufführung wieder auftaucht, das ist selten.

Die Autorin des Stücks, Dea Loher, hatte dem Bremer Theater nach der Premiere verboten, ihr Stück ohne die Figur der Ella aufzuführen. Ohne Ella seien die tragende Struktur und der Sinnzusammenhang des Stücks nicht mehr gegeben, teilte Lohers Verlag mit. Riemenschneiders Inszenierung sei eine „massive Urheberrechts- und Vertragsverletzung“ und zeige ein „mangelndes Bewusstsein für dramaturgische Verantwortung“.

Das Bremer Theater gab klein bei und fügte die alternde Philosophin Ella wieder ein. In der neuen Fassung schlurft als stumme Provokation auch Ellas Gatte Helmut herbei, der ebenfalls keinen Platz in der Premiere bekommen hatte.

In der Neufassung zeigt sich: Ella hat reichlich Text, liefert Theoriegerüste und Erklärungsansätze, ist also eine durchaus gewichtige Figur. Richtig ist aber auch, dass Ella für die Episodenhandlung auf narrativer Ebene keine Bedeutung hat, da sie außer mit ihrem ursprünglich ebenfalls gestrichenem Mann mit niemandem interagiert.

„Unschuld“ spielt in einer Stadt am Meer in Europa: Elisio und Fadoul sind illegale Immigranten, sie haben eine Frau ins Meer gehen sehen und ihr nicht geholfen. Der eine kann nicht mehr schlafen, der andere findet eine Tüte voller Geld. Frau Habersatt bittet um Vergebung für Taten, die sie nicht begangen hat. Absolut ist eine blinde Frau, die nackt tanzt für Männer. Franz arbeitet in einem Bestattungsunternehmen, seine Frau Rosa möchte ein Kind von ihm. Die Mutter von Rosa, Frau Zucker, hat Zucker und zieht bei ihnen ein.

Es sind kleine Geschichten von Menschen, die nach Sühne suchen, nach einem Fünkchen Glück oder etwas Würde im dahingewürfelten Leben. In diesem Tableau liefere Ella ein „Generationenporträt der Alt-68er“, sagt Intendant Michael Börgerding. Diesen „philosophischen Resonanzraum“ würden die anderen Figuren nicht benötigen, sie hätten alle eine „Eigenberechtigung“. „Aber jetzt bin ich ja da“, sagt Ella und das Ensemble guckt etwas indigniert, das Spiel erstarrt, als hätte jemand „Freeze!“ gerufen.

Es ist ein denkbar schwieriger Einstieg für Ella-Schauspielerin Betty Freudenberg. Gerade hat sie daran gearbeitet, sich in einer Jelinek-Uraufführung („Tod-krank.Doc“) als neues Ensemblemitglied des Theaters Bremen vorzustellen, da muss sie zwischendurch noch der Ella Leben einhauchen.

Wird sie gebraucht? Ist sie gewollt? Die Unsicherheit lächelt Ella als elegante Salondame selbstbewusst weg, erweitert so schon einmal das soziale Milieu der gesellschaftlich randständigen Bühnenfiguren um eine mondäne Variante. Und legt einfach mal in souveräner Publikumsansprache los.

Drei Monologe hat Loher ihr geschrieben. Gekürzt um die Nörgelei am linken Populismus eines Hugo Chávez kommen sie nun zu Gehör. Zuerst wird aus Ellas Weltsicht die Episodendramaturgie des Stückes erklärt, dann der Ehemann beschimpft und schließlich beides zu einer Tat zusammengeführt.

Die Armut ihres Helmut interpretiert Ella als Anmut, die ihre Wehmut zur Wut befreit. Warum? Goldschmied Helmut will nichts und werkelt monomanisch an Schmuckschnörkeln, die das Leben angenehmer, die Welt schöner machen sollen. „Ehrlich gesagt, ich verachte meinen Mann“, sagt Ella.

Ella ist Helmuts Schicksal, während das Stückpersonal drumherum mit dem Selbstmord flirtet. Insofern bereichert Ella das Verhaltenspanorama der lakonisch Schwermütigen.

Ihr Buch von der „Unzuverlässigkeit der Welt“ müsste sie aber nicht mehr explizit vorstellen, wird die entscheidende Passage doch schon von der blinden Nachtclubtänzerin Absolut rezitiert und erläutert. Es geht um die Weigerung der Welt, sich für unsere Theorien über sie zu interessieren.

Daher entsagt Ella der „Zusammenhangserklärung“ zugunsten der „Zergliederung und Kartografierung von Mikroausschnitten“. Welterklärung funktioniere nur subjektiv aus individuellen, immer neu verknüpften Erlebnissen. „Dauernd entstehen neue unvorhergesehene Löcher, dauernd verändern sich die struktur- und haltgebenden Knoten, ein einmal Erkanntes kann sich morgen schon vollkommen aufgelöst haben, an seiner Stelle klafft ein Riss.“

So ist „Unschuld“ tatsächlich gestrickt. Die kleinen Figuren suchen große Zusammenhänge, finden aus dem Zufall geborene Wahrheitstrümmer und verzweifeln in eine suizidale Stimmung hinein.

Ella schaut dem in Bremen vom Bühnenrand aus zu. Sie staunt, ist auch mal genervt oder gelangweilt und sammelt dabei Argumente für ihre Monologe. Regisseur Riemenschneider hat die Figur nicht alibimäßig eingebaut, sondern den Fluss seiner Inszenierung zerstört, um die ungeliebte Ella mit liebevollem Humor zu umarmen.

Ella darf Loher-Worte feiern, Inhalte intellektuell unterfüttern und keck darum kämpfen, zur Aufführung dazuzugehören. Besser spät als gar nicht? Die Produktion wird durch Ella nicht besser, aber auch nicht schlechter. Sie wird holpriger und dafür um wenige Aspekte reicher. Ein Verbot der Premierenfassung ist durch die Figur Ella nicht gerechtfertigt.

Nächste Aufführungen: 23. 10., 25.10., 1. 11. und 15. 11.