: „Wenn die Musiker weg sind, können wir endlich Lärm machen“
DER HAUSTECHNIKER Drei Kilometer legt Hartmut Becker Tag für Tag quer durch die Philharmonie zurück. Auch zum 50. Jubiläum des epochemachenden Konzertgebäudes sorgen er und seine Mitarbeiter für die entscheidenden Details: dass das Orchester richtig sitzt, die korrekten Lampen hängen – und immer genug Staub liegt
■ Der Mann: Seit 1995 ist Hartmut Becker, 61, Vizegebäudemanager und Leiter der Haustechnik in der Berliner Philharmonie am Kulturforum. Nach der Ausbildung zum Elektromonteur studierte er Elektrotechnik. Von 1980 bis 1987 war er als Planer am Bau des Nord- und Südflügels des Konzerthauses am Gendarmenmarkt beteiligt. Becker betreute auch Umbauten und Sanierungen der Berliner Volksbühne, des Berliner Ensembles und der Staatsoper.
■ Der Arbeitsplatz: Am 15. Oktober 1963 wurde der Neubau der im Krieg zerstörten Philharmonie als erstes Element des Kulturforums eröffnet. Das zeltartige Gebäude nach dem Entwurf von Hans Scharoun war damals unvorstellbar modern. Im Saal gruppieren sich die Ränge um das zentrale Orchesterpodium, die Ebenen schieben sich ineinander, klare Stockwerkhierarchien gibt es nicht.
INTERVIEW ANNE HAEMING FOTOS ERIK-JAN OUWERKERK
In fünf Minuten beginnt die öffentliche Generalprobe, noch ist kein Musiker zu sehen. Kurz vor einem Rundgang durchs gesamte Haus steht Hartmut Becker hinter der letzten Reihe im großen Saal der Philharmonie und sieht zu, wie die Zuhörer durch die Ränge an ihre Plätze drängen.
taz: Herr Becker, von wo aus sieht man am besten?
Hartmut Becker: Der Saal ist ja gebaut wie ein Zirkus, aber von den Sitzen neben der Orgel hat man wirklich den besten Blick auf die Musiker. Kurz bevor abends ein Konzert anfängt und man noch mal für zwei Minuten oben steht und überprüft, ob alles okay ist, unter einem der volle Saal – das ist schon beeindruckend.
Sie sind Leiter der Haustechnik und als stellvertretender Gebäudemanager für das ganze Haus zuständig. Was wäre denn das Schlimmste, was kurz vor Beginn noch passieren könnte?
Wenn sich die Schubventilatoren verabschieden und keine Frischluft mehr reinkommt. Vor zwei Jahren war das letzte Mal, dass wir das Problem fast nicht rechtzeitig lösen konnten. Es passiert auch immer mal wieder, dass die Hubpodien, auf denen die Instrumentengruppen sitzen, klemmen und sich nicht in die richtige Position fahren lassen.
Wieso wäre das so tragisch?
Die müssen wir für jedes Stück neu einstellen. Mal sitzt das Schlagzeug rechts, mal links hinten, die jeweilige Höhe ist eine Frage der Akustik. Wenn sich der Schalter verstellt hat, bricht Stress aus. Aber zwei Haustechniker verfolgen alles über Monitore, sie sind zur Not in zwei, drei Minuten im Saal. Bei einem Konzert unter Daniel Barenboim blieb mal die Orchesterspitze, auf der das Klavier steht, 60 Zentimeter zu tief hängen. Er hat trotzdem weitergespielt. Andere hätten abgebrochen.
Und was ist mit Simon Rattle, dem Chefdirigenten der Philharmoniker?
Ihm ist der Orchesteraufbau besonders wichtig, er achtet auf jedes Detail. Jeder Dirigent hat eben bestimmte Sonderwünsche, der eine will, dass das Podium auf eine bestimmte Höhe eingestellt ist, dem anderen zieht es im Rücken. Die Grundtemperatur hier liegt zwar bei 21 Grad, aber wenn ausverkauft ist, sind inklusive der Künstler 2.600 Leute im Saal – dann wird es natürlich wärmer.
Sind Sie auch für den Staub zuständig?
Ja, ich organisiere auch die Reinigungsdienste, warum?
Stimmt es, dass hier im Saal nicht so gründlich geputzt werden darf wegen des Klangs?
Die Schallsegel, die über dem Orchester hängen, dürfen wirklich nur einmal im Jahr sauber gemacht werden. Der Staub ist gut für die Akustik. Nach einem Jahr liegt da immerhin eine anderthalb Zentimeter dicke Schicht.
In diesem Herbst feiert die Philharmonie ihr 50-jähriges Jubiläum. Macht sich das an der Stimmung hier bemerkbar?
Man hat schon das Gefühl, dass sich momentan alle noch intensiver um ihre Bereiche kümmern. Es ist eben etwas Besonderes, in so einem Haus zu arbeiten – und wir in der Technik sind natürlich sehr stolz darauf, dass wegen uns noch kein Konzert ausfallen musste.
Was ist denn hier im Saal am anfälligsten?
Auf jeden Fall die Bestuhlung, der Klappmechanismus ist sehr sensibel. Die Sitze werden zehn Monate im Jahr täglich benutzt, an Wochenenden auch mehrmals. Und wenn der eine 80 Kilo wiegt und der andere 200, dann macht sich das irgendwann bemerkbar. Die Stühle werden zwar jeden Sommer überholt und neu bezogen, aber auch dieses Jahr war es wie immer: Gleich nach der ersten Veranstaltung waren wieder zehn Sitze kaputt. Richtig unpraktisch ist aber nichts, Herr Scharoun hat wirklich alles sehr gut durchdacht.
Wie viel haben Sie eigentlich mit den Musikern zu tun?
Die Philharmoniker waren ja immer eine Art demokratischer Staat, deswegen haben wir schon Kontakt. Bestimmte Dinge besprechen wir direkt, beispielsweise, was ihre Garderoben angeht: Der Damenanteil im Orchester nimmt immer mehr zu. Und so langsam müssen wir uns Gedanken machen, wo sich noch geeignete Räume dafür finden. Das ist einer der wenigen Mängel, die dieses Haus hat: Man hat damals einfach nicht damit gerechnet, dass auch mal Frauen im Orchester spielen könnten. Früher war das eine reine Herrendomäne. Die Solistenzimmer haben wir letztes Jahr schon umgebaut, die waren noch im alten Scharoun’schen Stil.
Das heißt?
Naja – die Zimmer hatten ein Waschbecken und einen Spiegel. Jetzt sind sie mit einer Dusche ausgestattet sowie bisschen freundlicher und bequemer möbliert. Wir haben schließlich regelmäßig hochrangige internationale Solisten zu Besuch.
Die Glocke läutet zum zweiten Mal. Es wird stiller im Saal, alles läuft nach Plan. Zeit für Becker, weiterzugehen. Ab ins Foyer, zwischen die kirchenglasbunten Fenster und diagonalen Säulen.
Im Jubiläumsprogrammheft steht, das Foyer habe eine „erotische Qualität“, man spüre eine gewisse „Vorlustspannung“, wenn man es vor dem Konzert betrete. Sie auch?
Nein, wirklich überhaupt nicht. Wir sind Menschen der Technik. Aber natürlich interessieren wir uns für die Musik, auch wenn einem manche Stücke mehr gefallen als andere.
Was hören Sie denn gern?
Na, mehr so leichtere Sachen von Beethoven oder Mozart. Die „Entführung aus dem Serail“ finde ich sehr schön und Operetten mag ich besonders. Die schwereren oder moderneren Stücke, etwa von Grieg, sind weniger mein Ding.
Was hatten Sie mit klassischer Musik am Hut, bevor Sie hier anfingen?
Eigentlich gar nichts. Aber über die Überwachungsmonitore hört man ja den ganzen Tag mit, was geprobt wird. Irgendwann verinnerlicht man die Musik, und die gängigsten Stücke erkenne ich inzwischen sogar. Zugegeben: Wenn es zu komplizierte oder moderne Stücke sind, dreht man sie vielleicht auch mal etwas leiser.
Setzen Sie sich auch einfach mal in eine Probe rein?
Das passiert sehr, sehr selten, weil wir ein sehr straffes Tagesgeschäft haben. So ein Haus lebt ja 24 Stunden lang, gerade am Wochenende.
Wie sieht dieser straffe Arbeitsalltag denn aus?
Ich fange morgens so um halb 7 an und mache meine erste Runde durchs Haus, schaue, ob die Reinigungsfirma gut gearbeitet hat. Eine Dreiviertelstunde bin ich da schon unterwegs, drei Kilometer lege ich am Tag mindestens zurück.
Wie lange brauchten Sie, um sich nicht mehr zu verlaufen?
Bis man jede Ecke in der Philharmonie und dem Kammermusiksaal kennt, dauert es fast ein Jahr. Wir rechnen nicht in Stockwerken, sondern in Ebenen, die ineinander übergehen, das hat Scharoun so angelegt: hier eine Treppe hoch, dort wieder eine halbe Treppe runter, auf der anderen Seite wieder ganz anders.
Arbeiten Sie noch mit den alten Plänen?
Ja, aber das Papier vergilbt leider mit der Zeit. Wir haben jetzt alle Räume neu vermessen, um die Daten digitalisieren zu lassen. So weiß man auf einen Blick, wo welcher Fußboden liegt, welche Wandfarbe verwendet wurde und wie viele Telefonanschlüsse es gibt. Alles in einer Exceltabelle. Endlich muss man nicht mehr mit dem Taschenrechner arbeiten, sondern lässt die Quadratmeter Steinfußboden und Fensterfläche automatisch zählen.
Was haben Sie auf Ihren Touren so dabei?
Eigentlich nur meinen Schlüsselbund. Oft weiß ich bei den vielen Schlüsseln auf den ersten Blick gar nicht, welcher wofür ist. Und ein Vierkant ist da auch dran, damit ich die Schaltschränke öffnen kann, um an die Elektrik zu kommen. Und natürlich mein Handy, auch wenn man damit hier nicht überall telefonieren kann. Der Spannbeton blockt die Verbindung. Dafür haben wir dann Walkie-Talkies, um uns etwa zwischen Saal und Unterdach zu verständigen.
Beeinflusst die Musik Ihren Job?
Ja klar: Während der Proben können wir zum Beispiel keine lärmintensiven Arbeiten machen. Das fängt schon an, wenn Sie hier im Foyer einen Stein im Glasmosaikfußboden ersetzen wollen – das auszufräsen wäre zu laut. Die Akustik ist so gut, das würde man bis in den Saal hören. Deswegen muss so etwas vor den Proben passieren, vor 10 Uhr morgens.
Das Haus ist eine architektonische Besonderheit. Gibt es dafür auch spezielle Werkzeuge?
Nein, nur für die Pusteblumen da drüben haben wir Sonderanfertigungen, weil sie aus früheren Zeiten stammen, diese Technik gibt es heute gar nicht mehr.
Pusteblumen?
So heißen die Lampen, die hat Günter Ssymmank im Auftrag von Scharoun als Kunst am Bau entworfen, sie sind patentrechtlich geschützt. Und allein aus Denkmalschutzgründen könnten wir da gar keine andere Leuchte hinhängen. Vier oder fünf Stück davon haben wir noch in petto. Die werden zusammengesteckt und -geklebt. Wegen der UV-Strahlung werden die einzelnen Teile mit der Zeit leider spröde und zerfallen.
Was hier ist denn überhaupt noch Original?
Das meiste ist schon mal ersetzt oder farblich behandelt worden. Natürlich ist der Fußboden noch original, die Stuhlgestelle im Saal sind es auch. Aber nach drei, vier Jahren muss jeder Abschnitt überholt werden. Gerade tauschen wir in den Toiletten die Seifenspender aus. Das muss alles dem Denkmalschutz entsprechen und ist meist eine Spezialanfertigung. Das macht die Instandhaltung so teuer.
Gibt es noch Aschenbecher von damals? Scharoun ist schließlich immer mit einem Zigarillo im Mund herumgelaufen.
Hier herrscht absolutes Rauchverbot. Aber von den Original-Aschenbechern, die hier überall rumstanden, gibt es sogar noch ein Exemplar, in unserem Lager in der Wiebestraße. Man kann nicht alles aufheben, das weiß man ja von zu Hause.
Sie haben ein Lager?
Ja, das ist wirklich das einzig Unpraktische, daran hat Scharoun nicht gedacht. Die Philharmonie ist nicht unterkellert, und das Equipment des Orchesters wächst und wächst. Einen Teil unseres Materials haben wir inzwischen ausgelagert, zehn Minuten entfernt im Wedding. Da liegen ein Teil vom Archiv des Hauses, unser Lampenlager, die Scheinwerfer.
Gibt es für Sie eigentlich eine Hauptsaison?
Ja, in der Spielzeitpause. Da können wir die meisten Reparaturarbeiten machen, das ganze Gebäude grundreinigen und an allen Anlagen arbeiten. Das ist auch die einzige Zeit, in der wir am Wochenende frei haben. Während der Saison geht das natürlich nicht.
Vermissen Sie die Musiker in der Sommerpause?
Eigentlich nicht – wenn sie weg sind, können wir ja endlich Lärm machen. Und wir können problemlos in ihre Bereiche, etwa in die Stimmzimmer. Um dort einen Teppichboden zu erneuern, benötigen wir eine Woche.
Hartmut Beckers weitere Strecke führt nun über mehrere Treppenhäuser, Türen und Gitterböden zur riesigen Betonzwischendecke über dem Konzertsaal, die aussieht wie eine amorphe Mondlandschaft. An ihrem Rand lehnen Ersatzflächen der goldglänzenden Epoxytfassade, die das Gebäude nachträglich Ende der 70er Jahre erhielt. Er marschiert auf eine Luke zu, klettert die Leiter rauf – und steht draußen auf dem Dach.
Wie oft sind Sie denn hier oben unterwegs?
Einmal im Monat, um zu schauen, ob es Risse gibt. Am liebsten mag ich den Blick in Richtung Goldelse. Die ragt so markant heraus, wenn man über den Tiergarten schaut.
Wann gefällt Ihnen das Haus am besten?
Im Sommer, wenn alles grün ist und die Sonne direkt auf die Fassade scheint, sie strahlt dann so toll. Wenn ich mit dem Auto zur Arbeit komme, sehe ich eine Ecke des Gebäudes schon ab dem Leipziger Platz.
Die Philharmonie sollte ja eigentlich an der Bundesallee in Wilmersdorf gebaut werden. Finden Sie, das hätte gepasst?
Nein, diesen Standort hier haben sie schon sehr gut ausgesucht, er liegt ja direkt in der Mitte der Stadt – bis zum Mauerbau und seit der Wiedervereinigung wieder. Und drumherum ist in den letzten 20 Jahren viel gewachsen. Als ich 1995 hier anfing, gab es den Potsdamer Platz so noch nicht. Wo jetzt das Sony Center steht, konnte man von hier aus ewig weit schauen, man sah Reste der Mauer und sonst nur Unkrautwüste.
Wann waren Sie eigentlich zum allerersten Mal hier im Haus?
Das war im Sommer 1990, aber ich war nur im Hauptfoyer. Wir haben einen Ausflug in den Westen gemacht, zum Tiergarten. Bekannte hatten mir von dem Gebäude erzählt, also haben wir uns das mal angeschaut. Ich fand’s gut. Aber natürlich habe ich nicht daran gedacht, hier jemals zu arbeiten.
Kommen Sie auch heute noch mal privat her?
Ja, ein, zwei Mal im Jahr. Zum Eröffnungskonzert etwa. Da macht man den Dienstplan eben so, dass man nicht arbeiten muss. Aber wir lassen Gerechtigkeit walten, jeder von uns darf mal die Dienstkarten nutzen, die unsere Abteilung bekommt.
Hauptsache nicht in der Ehrenloge, oder?
Die Akustik da oben ist nicht so schlimm, wie gerne behauptet wird. Aber es stimmt schon: Das sind wirklich die schlechtesten Plätze.