piwik no script img

Archiv-Artikel

Ein kriminalistisches Lehrstück

ATOMKRAFT Die Physikerin Inge Schmitz-Feuerhake erzählt über Gefahren radioaktiver Strahlung und den Kampf gegen Konzerne

Einst hat die Nutzung von Atomenergie auch in der Medizin Euphorie ausgelöst: Bis es bei unserem Forschungsreaktor in Hannover einen Störfall gab. Die Detektoren haben angeschlagen, so weit über den Messbereich, das man es nicht mehr ablesen konnte

VON GABRIELE GOETTLE

„Es gibt keine sichere Dosis.“ John W. Gofman (1963)

Em. Prof. Dr. rer. Nat. Inge Schmitz-Feuerhake, geb. 1935 in Osnabrück. Ihr Vater war Bauingenieur, die Mutter Hausfrau. Nach dem Abitur 1955 Studium der Physik u. Mathematik in Hannover u. Würzburg. 1966 Promotion mit einer Arbeit über Dosimetrie des radioaktiven Fallouts. 1966–73 Physikerin am Institut f. Nuklearmedizin d. medizinischen Hochschule Hannover. Forschungsarbeit zu Dosimetrie u. diagnostischem Einsatz von radioaktiven Strahlen, Betriebsleiterin eines Forschungsreaktors. 1969 Heirat, 1972 Geburt des Sohnes. 1973 Professur f. experimentelle Physik an d. Uni Bremen, seit d. 80er Jahren Beschäftigung mit strahlenbedingter Leukämiehäufung in Deutschland. 1987 stirbt ihr Mann. 1990 Gründungsmitglied d. Gesellschaft f. Strahlenschutz e.V.; Mitherausgeberin d. Berichte d. Otto-Hug-Strahleninstituts e.V. (1996 Heirat), 2000 Pensionierung. 2003 Wahl z. Vorsitzenden d. European Committee on Radiation Risk (ECRR) u. zum Mitglied d. wissenschaftl. Beirats der IPPNW-Deutschland. Auszeichnung Nuclear-Free-Future Award f. ihr Lebenswerk: „Die Erforschung von Langzeiteffekten im Niedrigstrahlen-Bereich und deren Messbarkeit“. Sie macht Gutachten, z. B. für krebskranke Bergarbeiter aus d. ehemaligen DDR-Uranbergbau oder auch für erkrankte Radarsoldaten der Bundeswehr.

Abschätzung der Dosis

Wer sich mit der Atomindustrie und ihrer Lobby anlegt, bekommt es mit einer Phalanx von Feinden und Gegnern zu tun. Das musste auch Inge Schmitz-Feuerhake erfahren. Als sie ihre langjährigen und bohrenden Analysen über die Ursachen von Leukämiehäufungen bei Kindern rund um die Atomanlage Krümmel veröffentlichte, zog das eine regelrechte Hexenverfolgung nach sich. Unwissenschaftlichkeit und Voreingenommenheit wurden ihr etwa von der Gegenseite unterstellt. Medien (darunter etwa Spiegel und Hamburger Abendblatt) machten sie als Wissenschaftlerin lächerlich. Sie blieb unbeugsam. 2007 veröffentlichte sie zusammen mit Sebastian Pflugbeil eine Zusammenfassung der Untersuchungen: „Das Elbmarsch-Leukämiecluster: Kontaminationen bei Geesthacht durch Kernbrennstoffe und Abschätzung der Strahlendosis für die Bevölkerung“.

Wir bitten sie, uns ihre Geschichte zu erzählen: „Mein persönlicher Einstieg war 1973, als ich an die Uni Bremen kam und feststellen musste, dass es schon lange eine Antiatombewegung gibt“, sie lacht trocken. „Ich hatte das nur so am Rande mitbekommen, die Proteste der Göttinger Professoren, die Demonstrationen gegen Strauß und seinen Wunsch einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr. In Hannover beim Institut, an dem ich studierte, machten wir Messungen im Zusammenhang mit den oberirdischen Versuchen, Messungen der radioaktiven Wolken, die von weit her kamen, also zuletzt damals von China. Mein damaliger Chef war sehr vorsichtig mit Radioaktivität. Er hielt sie grundsätzlich für lebensgefährlich. Aber ich war damals unkritisch. Ich habe alles geglaubt, was darüber in den Physikbüchern stand, dass die friedliche Verwendung der Kernenergie eine gute Sache sei, die man leicht beherrschen könne usw. Dass man gegen ihre Nutzung zur Stromerzeugung sein kann, auf die Idee bin ich nicht gekommen.

Bei uns gab’s damals kaum Frauen, und zu meiner Zeit war es in der Chemie sowieso üblich, dass alle Frauen rausgeprüft wurden. Die wollten keine Frauen, haben uns gleich im Vordiplom abgesägt durch entsprechend harte Prüfungen. Ich habe das dann auch erfahren, natürlich! Ich habe übrigens den Professor, den Institutsdirektor, der das Ganze so autoritär strukturiert hatte, den habe ich Jahre später zufällig im Zug getroffen. Da saß ein ganz altes Männlein mir gegenüber. Ich habe ernsthaft überlegt, ob ich ihm eine in die Fresse hauen soll. Er war wirklich ein Widerling ersten Ranges, hat uns Mädchen in der Physik immer klar gesagt, dass wir von Chemie überhaupt keine Ahnung haben. Einerseits habe ich es bedauert, dass ich es nicht getan habe, aber bei so einem alten, zittrigen Mann hat das ja keinen Sinn. Ich hatte zum Glück meinen Physik-Chef, der hatte keine Vorbehalte, mich als Doktorandin anzunehmen und voll bezahlt einzustellen.

Und mein Chef dann in der Nuklearmedizin, der hatte auch keine Vorbehalte. In meiner Doktorarbeit ging es ja um die Dosis durch radioaktiven Fallout, das war 1966, und durch diese Spezialisierung bekam ich an der neu eröffneten Medizinischen Hochschule Hannover eine Stelle als Physikerin, an einem Institut für Nuklearmedizin. Die Anwendung radioaktiver Isotope in der Medizin war damals ein ganz neues Gebiet, es gab eine ausgesprochene Euphorie über das, was man alles machen kann mit der friedlichen Atomenergie. Sie wollten unbedingt einen eigenen Atomreaktor im Klinikum zur Herstellung von radioaktiven Isotopen für den Einsatz in der Medizin. Den haben sie auch bekommen.

So bin ich Betriebsleiterin eines Forschungsreaktors geworden. Er war gar nicht mal so klein, hatte eine recht hohe Neutronenflussdichte und konnte damit schon erhebliche Aktivitäten erzeugen. Das habe ich mit Schrecken bemerkt, als es mal einen Störfall gab, da war die ganze Halle voll von Isotopen. Die Detektoren haben angeschlagen, so weit über den Messbereich, dass man es nicht mehr ablesen konnte. Heute würde man sich wirklich an den Kopf fassen!

Ich bin da ganz naiv rangegangen. Es war mir allerdings aufgefallen, wie großzügig die Sicherheitsbestimmungen waren. Ich hatte den Sicherheitsbericht verfasst, ohne den keine Nuklearanlage betrieben werden kann, und war überrascht, wie wohlwollend das Ministerium war und wie wohlwollend der TÜV sich gegenüber dem Projekt zeigte. Später habe ich dann festgestellt, dass dasselbe Wohlwollen auch bei den großen Anlagen vorherrscht und dass im Grunde keine zweite unabhängige Kontrolle da ist. Das ist die Erfahrung, die ich dann später auch mit dem KKW Krümmel bzw. mit der Überwachung seiner Anlagen gemacht habe. Es gibt allerdings doch noch eine unabhängige Überwachung durch die Aufsichtsbehörde, die darin besteht, dass im ganzen Land Detektoren aufgestellt werden, die im Gefahrenfall dann anzeigen sollen. Wir haben aber erlebt bei Krümmel, dass wenn ein Detektor anschlägt, man erst mal davon ausgeht, dass er kaputt ist und ausgewechselt werden muss. Wenn er dann noch mal anschlägt, wird er wieder ausgewechselt.

Ich habe mich damals dann in Bremen beworben, denn mein Institut wurde immer größer und größer und plötzlich waren die Physiker nur noch die Dienstleister innerhalb der Medizin. Ich wollte aber Wissenschaft betreiben und Forschung. Die Uni Bremen wurde im Wintersemester 1972 gerade neu eröffnet und ihr Konzept gefiel mir gut. Interdisziplinäres Studieren war angesagt, Drittelparität gab’s, und die Wissenschaft sollte gesellschaftliche Verantwortung zeigen. Ich bekam eine Stelle für experimentelle Physik. Da gab es eine sehr rege Gruppe, die durch ihre USA-Aufenthalte gegen Atomkraft eingestellt war. Zu dieser Zeit nicht selbstverständlich, denn die Umweltbewegung gründete sich damals gerade. Ich war wirklich überrascht. Ich hatte ja immer nur meine Fachliteratur gelesen, und eben das, was man so im Strahlenschutzkurs lernt, den der TÜV abhält. Aber von den Grundlagen der Strahlenbiologie hatte ich keine Ahnung. Ich dachte, dieser Strahlenschutz mit seinen Grenzwerten ist … ein bisschen übertrieben. So wie auch heute noch einige Leute denken.

Risiken im Schwachen

Ich habe mich also schlau gemacht und die kritischen Schriften gelesen. Allen voran ‚Low-Level Radiation‘ von Ernest J. Sternglass, einem amerikanischen Physiker, und die epidemiologischen Studien von Alice Stewart, die sie ja schon in den fünfziger Jahren begonnen hat, über vorgeburtliches Röntgen – also geburtshilfliches Röntgen –, dass das Krebs erzeugt bei den Kindern. Erst in den neunziger Jahren übrigens wurden ihre Forschungsergebnisse anerkannt! 40 Jahre lang hat sie die offiziellen Abschätzungen für das Strahlenrisiko in Frage gestellt. Und ich stellte fest, sie hat recht! Die Kritiker haben recht. Ich habe mich total gewandelt und von Stund an habe ich mich gründlich um die Niedrigdosen-Sachen gekümmert. Sternglass wurde später von uns auch ein paarmal eingeladen. Er war ja mit dem Atomphysiker Jens Scheer befreundet, der auch in unserer Gruppe war.

Es gab damals eine Art Bibel für die neue Bewegung, das Buch ‚Poisened Power‘ – ‚vergiftete Energie‘, von zwei US-Wissenschaftlern, Gofman und Templin. Die hatten im Auftrag der damaligen amerikanischen Atomenergiekommission (AEC) – die war von 1946 bis 1974 die zentrale Behörde für Kernwaffen –, Projekte untersucht. Unter anderem sollte ein zweiter Panamakanal mit Atombomben freigesprengt werden, ‚Operation Pflugschar‘ hieß das Verfahren.“ (In der Sowjetunion gab es „Atomexplosionen für die Volkswirtschaft“, Anm. G.G.) „Weil die beiden Wissenschaftler zu bedenken gaben, dass Radioaktivität gefährlicher ist, als dargestellt, dass sie mutagen ist, ein einziges Quant eine Zelle mutieren kann, dass es also genetische Schäden geben wird etc., sind sie natürlich als Gutachter rausgeflogen.

1975 haben wir dann innerhalb der Bremer Uni-Gruppe auch ein Buch geschrieben, was hier in der Szene in Deutschland eine ziemliche Rolle gespielt hat. Die Autorengruppe des Projektes SAIU hat es gemeinsam verfasst: ‚Zum richtigen Verständnis der Kernindustrie – 66 Erwiderungen.‘ Das war sozusagen die Antwort auf eine total verharmlosende Propagandaschrift der Energiewirtschaft in Form von 66 Fragen und Antworten für den Bürger. Ansonsten habe ich natürlich versucht, die Niedrigdosen-Sache nicht nur in der Forschung zu bearbeiten, sondern sie auch unseren Diplomanden und Doktoranden ans Herz zu legen, was auch gelang. Meine erste Publikation auf diesem Sektor war 1978 diese ‚Jod-Arbeit‘. Darauf kam ich, weil ich zuvor ja in der Nuklearmedizin gearbeitet hatte, wo Jod damals in riesigen Mengen angewandt wurde. Allein unser Institut hat pro Jahr 100.000 Radio-Jod-Tests machen lassen an Frauen. Sie mussten einen ‚Cocktail‘ trinken, so hieß das damals. Die Dosis war relativ hoch, heute macht man das nicht mehr auf diese Weise. Ich habe mir ausgerechnet, dass da etlichen Frauen ein Krebs angehängt wurde. Mit Sicherheit! Damals war das eben Mode, immer wenn unklare Beschwerden, Stimmungsschwankungen auftraten, hieß es: ‚Geh doch zum Radio-Jod-Test!‘

Versuch eines Dialogs

Wir haben natürlich auch versucht, als Gruppe den Dialog zu führen mit dem Establishment, haben zwei Symposien an der Uni Bremen über Niedrigstrahlung abgehalten, haben die Vertreter des Mainstreams eingeladen, ich selbst bin auch regelmäßig zu Röntgenkongressen, um unsere Erkenntnisse vorzutragen. Wir waren immer Außenseiter. Anfangs wurde das noch zugelassen, dann immer weniger, bis man uns völlig geschnitten hat. Und weil damals das Konzept der Bremer Uni noch war, ‚Wissenschaft fürs Volk‘ zu machen, hatten wir viel zu tun mit Laien und Bürgerinitiativen, die sich mit dem Problem Strahlenwirkung beschäftigt haben. Wir führten Gespräche, hielten Vorträge. Und natürlich haben wir weiterhin versucht, unsere Sachen in der wissenschaftlichen Welt zu publizieren, in den üblichen Zeitschriften, was sehr schwer war. Also die Schilddrüsen-Sache, die ging noch ganz gut. Dann habe ich meine erste Kritik an der herrschenden Einstellung zum Strahlenrisiko geschrieben, die konnte ich auch noch in der Zeitschrift Fortschritte Röntgenstrahlen unterbringen, das ist das Hausblatt der Radiologen, aber dann wurde es immer schwieriger.

1979 habe ich dann auch Kritik geübt an der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP). Die ist heute noch unser Hauptgegner. Die ICRP hat ja zum Beispiel Tschernobyl als einen Unfall beschrieben, bei dem praktisch niemand zu Schaden gekommen ist! Und wie kamen sie zu diesem Ergebnis? Weil sie es ausgerechnet haben. Diese Institution ist die normgebende Institution. Alle Quasi-Standards international, die beruhen auf ICRP-Empfehlungen: Also sie gibt Empfehlungen und Richtlinien vor und sorgt letztlich für deren Durchsetzung. Als Referenz für ihre verharmlosenden Einschätzungen zieht die ICRP die Forschungen an den Überlebenden der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki heran, die bis heute in einem japanisch-amerikanischen Institut in Hiroshima erfolgen, der ‚Radiation Effects Foundation‘ (RERF). Die Forschung wurde lange Zeit von US-Wissenschaftlern dominiert.“ (1946 setzte Präsident Truman eine Atomic Bomb Casualty Commission (ABCC) zur wissenschaftlichen Untersuchung der Atombombenopfer ein. Sie existierte 30 Jahre und war Vorgängerorganisation der RERF. Bis Mitte der Fünfziger waren ihre Forschungsergebnisse unter Verschluss. Anm. G.G.)

„Rund 20.000 Überlebende wurden registriert und daraufhin alle zwei Jahre zu Untersuchungen einbestellt. Entgegen landläufiger Meinung waren die 20.000 Überlebenden, die jenes Referenz-Kollektiv bildeten, keineswegs Hochradioaktivität ausgesetzt. Ausgehend vom Mittelpunkt, dem Epizentrum der Bombenexplosion, wurden die Menschen verschiedenen konzentrischen Kreisen zugeordnet. So galt etwa die sogenannte Niedrigdosis-Gruppe mit rund 10.000 Personen, die einer angenommenen Dosis von 200 Milli-Sievert (mSv) ausgesetzt war, als ‚gut besetzt‘.

Auf Grundlage dieser Daten wurden die lange Zeit verwendeten Dosisleistungskurven erstellt. Bei der Berechnung der Radioaktivitätsdosis, der die Niedrigdosis-Gruppe ausgesetzt war, blieb aber der Fallout unberücksichtigt, ebenfalls nicht mit eingerechnet wurde die Neutronenstrahlung. So kam es bei der Benutzung dieser Daten durch die ICRP als Referenz durchweg zu einer Unterschätzung der Folgen niedriger Dosen bei der Exposition einer normalen europäischen Bevölkerung. Und darüber haben wir gearbeitet. Ich wollte das publizieren in einer englischsprachigen Zeitschrift und habe es Lancet gegeben, einer altehrwürdigen britischen Zeitschrift für allgemeine Medizin. Und das ist noch heute eine wichtige Publikation. Man war vorsichtig. Mir wurde vorgeschlagen, den Text als Leserbrief zu veröffentlichen. Das habe ich dann auch gemacht. Aber ich habe natürlich gesehen, was droht. In dem Moment, wo man Kritik äußert und einen anderen Befund hat, wird wissenschaftliches Publizieren unterbunden.

Biologische Dosimetrie

Wir hatten damals in Bremen ein tolles Projekt, in Fortsetzung von diesem SAIU-Projekt, nämlich die biologische Dosimetrie.“ (Im Gegensatz zur physikalischen Dosimetrie wird bei der biologischen nicht die Dosis selbst erfasst, sondern ihre Wirkungsweise auf die Zellebene. Anm. G.G.) „Man kann sehr empfindlich feststellen, allerdings mit einer aufwendigen Chromosomenanalyse, ob jemand bestrahlt wurde oder nicht. Damals wurde an der Uni Bremen noch die interdisziplinäre Arbeit großgeschrieben und wir Physiker hatten zu Atomenergie und Strahlen gemeinsame Projekte mit Studentinnen und Studenten der Biologie und Chemie. Vier von denen sagten, wir machen jetzt eine Diplomarbeit und bauen euch die biologische Dosimetrie auf. Das machen wir in der Humangenetik, dort lernen wir die Technik. Der Professor für Humangenetik hat ihnen das zwar beigebracht, wollte aber danach gar nichts mehr mit uns zu tun haben! Dank biologischer Dosimetrie konnten wir dann in der Elbmarsch nachweisen, dass Umgebungskontaminationen tatsächlich Leute verstrahlt haben, rund ums KKW Krümmel. Krümmel war für uns das Lehrstück. An 20 Erwachsenen und 10 Kindern haben wir mittels biologischer Dosimetrie festgestellt, die haben tatsächlich eine Dosis abgekriegt. Wir hatten zum Teil bis zu zehnfach erhöhte Chromosomenaberrationen, also Abweichungen. So war klar, die offiziellen Dosisangaben stimmen nicht! Aber unsere Befunde wurden energisch bestritten!“

Kleiner Einschub meinerseits: Die kerntechnischen Anlagen bei Geesthacht an der Elbe bestanden damals zum einen aus dem Kernkraftwerk Krümmel – es wurde 2009 nach einem Unfall abgeschaltet und 2011 nach Fukushima offiziell „stillgelegt“ – und aus dem benachbarten GKSS-Forschungszentrum, bestückt mit zwei Forschungsreaktoren. Dieses Forschungszentrum wurde 1956 von den Atomwissenschaftlern Bagge und Diebner unter der harmlosen Bezeichnung „Gesellschaft für Kernenergie und Schiff-Fahrt“ gegründet. Beide hatten wie Heisenberg am geheimen Atomwaffenprogramm der Nazis gearbeitet. Beide wurden nach dem Krieg von den Engländern in „Farm Hall“ interniert – zusammen mit den führenden Kernphysikern Heisenberg, Laue, Hahn, von Weizsäcker u. a. Als im Frühjahr 1957 18 führende deutsche Kernphysiker mit dem „Göttinger Appell“ gegen die Bewaffnung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen protestierten, unterzeichneten Bagge und Diebner als einzige nicht!

„Es hat 1986 einen ungeklärten Unfall und Brand auf dem Gelände der GKSS-Kernforschungsanlage Geesthacht gegeben. Immer mehr Fakten deuteten dann im Laufe der Zeit darauf hin, dass es sich wahrscheinlich um einen Unfall im Zusammenhang mit geheimgehaltenen illegalen kerntechnischen Experimenten gehandelt hat. Wir fanden später Indizien in der Umgebung und zwar Isotope von Thorium, Uran, Plutonium und weiteren Transuranen. Diese Stoffe traten zum Teil in Form von Schwermetallkügelchen, sog. Pac-Kügelchen, auf, teils mit bloßem Auge zu erkennen. Das wurde natürlich sofort geleugnet. 2005 gab es eine Untersuchung unserer Proben an der Minsker Sacharow-Universität durch den international renommierten Experten für Plutoniumverortung, Professor Mironow. Sie ergab, dass es sich weder um Fallout früherer oberirdischer Atomwaffenversuche noch um Spaltprodukte aus der Wolke der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl handelt und auch nicht um Material aus einem Atomkraftwerk. 2007 trat Mironow bei einer Anhörung im niedersächsischen Landtag auf und bestätigte seine Untersuchungsergebnisse detailliert.

Vier Jahre nach dem Unfall, so ab 1990, waren ja in einem engen Kreis um die Atomanlagen herum eine eklatante Häufung von Leukämie-Erkrankungen bei Kindern registriert worden. Das ließ sich nicht mehr wegdiskutieren. Eine Häufung von Leukämie-Fällen in dieser Konzentration ist sonst nirgendwo auf der Welt beobachtet worden! Das KKW Krümmel liegt an der Elbe auf der Schleswig-Holsteiner Seite. Die ersten Leukämiefälle waren auf der niedersächsischen Seite und sie haben 1991 eine Fachkommission eingesetzt, in der ich war, als eine der wenigen Atomkritiker. 1992 wurde dann von Jansen, er war schleswig-holsteinischer Energieminister unter Björn Engholm, SPD-Mitglied und Atomkraftgegner, eine schleswig-holsteinische Leukämie-Kommission eingesetzt, in der war ich auch. Außer dem Vorsitzenden gab es sieben stimmberechtigte Mitglieder. Auch die Bürgerinitiative, die sich inzwischen gegründet hatte gegen die Leukämie in der Elbmarsch, hatte zwei Sitze, einer stimmberechtigt. Alle arbeiteten übrigens nebenberuflich und ehrenamtlich, bis auf Fahrgeld und Spesen, zwölf Jahre lang, von 1992 bis 2004. Hier waren überwiegend Kernkraftkritiker drin. Das war etwas ganz Neues!

Dogmen statt Aufklärung

Als das Elbmarschcluster amtlich bestätigt worden war, haben übrigens der damalige CDU-Bundesumweltminister Töpfer, die Strahlenschutzkommission und das Bundesamt für Strahlenschutz sofort verkündet, dass ein Zusammenhang mit Radioaktivität auszuschließen sei, da die Emissionen der Anlagen bekannt sind und die Dosis für einen solchen Effekt gar nicht ausreicht. Die Strahlenschutzkommission hielt es für unwissenschaftlich, überhaupt einer solchen Vermutung nachzugehen. Ihr ging es ausschließlich um Dogmen, nicht um Wissenschaft und Aufklärung.

Unsere Kommission war aber dann mehrheitlich zu dem Ergebnis gekommen, dass diese Leukämien durch Radioaktivität erzeugt worden sind. Nachher, nachdem der Jansen zurücktreten musste wegen einer Geldgeschichte, da tat es den Nachfolgern leid, dass es uns gibt. Nachfolger Claus Möller von der SPD war zugleich Aufsichtsratsmitglied bei PreußenElektra, dem damaligen Betreiber des KKW Krümmel. Er hat laut eigener Aussage das GKSS-Gelände persönlich gründlich inspiziert und ist zur Überzeugung gelangt, dass dort kein Unfall stattgefunden hat. Generell wurde immerzu behauptet, die Behörden hätten alles überprüft, da sei nichts rausgekommen. Wir führten eigene Untersuchungen in der Umgebung durch. 1992/93 zeigten sich in Bäumen der Elbmarsch fotografische Schwärzungen in den Jahresringen 1986, die von Betastrahlung erzeugt wurden. Wir haben gemessen und nachgeforscht. Wir haben in der Luft etwas gefunden, im Boden, sogar in behördlichen Akten fanden wir Hinweise. Weil alphastrahlende Isotope in den amtlichen Umgebungsmessungen so gut wie gar nicht überwacht werden, haben wir dann in der Elbmarsch selbst danach gesucht. Auf den Dächern mehrerer Häuser fanden wir Plutonium und Americium, künstliche Stoffe, die beim Betrieb von Kernreaktoren entstehen. Die Aufsichtsbehörde behauptete, es handle sich um überall vorhandene Relikte der früheren oberirdischen Atombombentests. Jedes unserer Gutachten wurde mit einem Gegengutachten beantwortet. Es war eine wahre Gutachtenschlacht. Da steht dann Aussage gegen Aussage, unsere Untersuchungsergebnisse wurden als ‚haltlose Vorwürfe‘ bezeichnet, wir als Atomkraftgegner können nicht objektiv sein. Das glaubt einem keiner, dass so systematisch gelogen und gefälscht wird, wie wir das erlebt haben. Und dann kam 2004, inzwischen herrschte die rot-grüne Koalition, der Parteivorsitzende der Grünen, Vogt, der vor den Wahlen vollmundig eine schonungslose und ergebnisoffene Aufklärung angekündigt hatte. Er war Staatssekretär im Energieministerium geworden!

2004 traten sechs der acht Mitglieder aus der schleswig-holsteinischen Leukämie-Kommission aus und legten unter Protest ihr Mandat nieder, entnervt durch jahrelange permanente Behinderungen und Ignoranz der Behörden. Wir verfassten einen eigenen Abschlussbericht, in dem wir das Geschehen auf unkontrollierte Radioaktivitätsfreisetzungen zurückführten. Zwar wurde von uns eine Mitverursachung des AKW Krümmel an den Leukämieerkrankungen eingeräumt, die entscheidende Kontamination führten wir aber auf einen Unfall bei geheimgehaltenen kerntechnischen Sonderexperimenten auf dem Gelände des Forschungsreaktors zurück. Dieses Ergebnis gründlicher Analyse wurde als haltlose Verschwörungstheorie verworfen. Und damit wurde die Akte geschlossen. Von offizieller Seite wurde abschließend erklärt, es habe sich trotz großen Aufwands keine Ursache für das bedauerliche Krankheitsgeschehen feststellen lassen. Wir verkündeten, dass wir uns natürlich weiter mit der Sache beschäftigen, zusammen mit der Bürgerinitiative und der IPPNW, ach ja, und zwei Journalistinnen machten eine umfangreiche ZDF-Dokumentation ‚Und keiner weiß warum: Leukämietod in der Elbmarsch‘, ist auf YouTube zu sehen.

Akten vernichtet

Wir haben leider lange nicht bemerkt, dass nicht das Kraftwerk die Hauptradioaktivität abgegeben hat, sondern das Kernforschungszentrum. Als Physikerin in dieser Kommission war ich mitschuldig. Wir haben uns die Forschungsreaktoren nicht rechtzeitig angeschaut. Sie haben den Reaktor nämlich abgebaut und schnell beseitigt, während wir anderswo herumgeforscht haben. Ich hätte eher darauf kommen müssen! Das GKSS ist einen Kilometer entfernt. Dort gab es 1986 eine radioaktive Wolke, die im KKW Krümmel von den Messinstrumenten registriert wurde. Die Aufsichtsbehörde behauptete, es sei eine Radonwolke natürlichen Ursprungs durch eine besondere Wetterlage gewesen. Aber das war eine Lüge, die ‚Radonlüge‘. Die haben wir beantwortet. Die Wetterlage gab es nicht und eine Radonwolke dieser Höhe ist physikalisch nicht möglich, kann es also auch nicht geben. Was es aber gegeben hat, das war ein Brand auf dem GKSS-Gelände. Die Brandunterlagen aber sind verschwunden. Laut Auskunft des Kreisfeuerwehrmeisters vom Dezember 2001 kann ein Brandereignis vom September 1986 nicht mehr überprüft werden, weil bei einem Brand 1991 im Büro der Feuerwehr sämtliche Akten vernichtet wurden.

Die Aufsichtsbehörde, die selbst den Unfall vertuscht hat, war zugleich die Kontrollbehörde unserer Ergebnisse! Der Bock als Gärtner, das glaubt keiner. Für die wissenschaftlichen Kritiker ist es sehr schwierig – selbst ihren Sympathisanten gegenüber –, das Ausmaß der Kumpanei zwischen Behörden und Betreibern glaubhaft zu machen. Aber das ist internationaler Standard! Einem französischen Wissenschaftler, der die Leukämiefälle nahe der Wiederaufbereitungsanlage La Hague untersucht hat – anfangs war er kein Kernkraftgegner –, ist massiv angegriffen worden. Ihm drohte gar ein Prozess wegen Schädigung einer Wirtschaftsregion! Und als ich damals gesagt habe, wir haben Plutonium gefunden, wurde auch ich massiv angegangen. Verschwörungstheorie, hieß es. Meine wissenschaftliche Arbeit wurde angezweifelt und geschmäht. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft wollte Sanktionsmaßnahmen ergreifen. Der Rektor hat sich öffentlich kritisch über mich geäußert und meine Fakultät hat sich ohne Rücksprache für mich entschuldigt. Und wie gesagt, ich habe einige meiner Doktoranden verloren. Das war schlimm! Bis heute, 27 Jahre danach, wird geleugnet, dass damals im Forschungszentrum ein schwerer Atomunfall stattgefunden hat.

Ganz wichtig ist: Es bemühen sich seit Langem Wissenschaftler darum, dass Niedrigstrahlenwirkungen besser kommuniziert werden. Dass sie anerkannt und bekannt gemacht werden. Dem ist längst nicht so. Wir kämpfen gegen die Verharmlosung, so wie jetzt in Fukushima. Deshalb ist das Beispiel Krümmel so wichtig. Spätestens Tschernobyl hat gezeigt, dass eine Reihe weiterer ernster Erkrankungen nach chronischer Niederdosisbestrahlung auftreten. Es gibt keinen Schwellenwert, unterhalb dessen ionisierende Strahlung unschädlich wäre.“